Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
keuchte auf seiner Mauer vor Angst wie ein Schiffbrüchiger auf seinem Floß, der die Segel eines Schiffs am Horizont vorübergleiten sieht.
Zu rufen wagte er nicht, denn ein einziger Schrei konnte allesverderben. Jetzt kam ihm ein Gedanke. Er zog Brujons Strick aus der Tasche und warf ihn in die Tiefe.
Der Strick fiel den vier Männern zu Füßen.
»Holla, eine Witwe«, sagte Babet.
»Ein Onkel«, sagte Brujon.
»Das ist der Wirt«, sagte Montparnasse.
Sie sahen hinauf. Thénardier schob seinen Kopf vor.
»Rasch«, flüsterte Montparnasse, »hast du das Strickende, Brujon?«
»Ja.«
»Knüpf die beiden Stricke zusammen, dann werfen wir das Ganze hinauf, er kann es festmachen und daran herunterrutschen.«
Thénardier wagte jetzt, lauter zu sprechen.
»Ich bin ganz klamm.«
»Wir werden dir schon einheizen.«
»Kann mich nicht rühren.«
»Laß dich abrutschen, wir fangen dich auf.«
»Hab die Hände steif.«
»So binde wenigstens den Strick an die Mauer.«
»Ich kann nicht.«
»Einer von uns muß hinauf«, meinte Montparnasse.
»Drei Stockwerke!« wandte Brujon ein.
Ein altes Ofenrohr stieg von der Baracke an der Mauer hinauf, fast bis zu dem Platz Thénardiers. Es war brüchig und sehr schmal.
»Vielleicht kommt man da hinauf?« fragte Montparnasse.
»An der Röhre?« fragte Babet. »Ein Kerl nicht. Höchstens ein Bub.«
»Aber wo nehmen wir einen Buben her?«
»Wartet«, sagte Montparnasse, »ich sehe einen Ausweg.«
Vorsichtig klinkte er die Tür auf, spähte in die Straße hinaus und lief dann in der Richtung auf die Bastille.
Sieben oder acht Minuten, die Thénardier wie Jahrtausende erschienen, verstrichen. Babet, Brujon und Gueulemer standen verbissen da. Endlich ging die Tür auf und Montparnasse erschien abermals. Er brachte Gavroche. Da es noch immer heftig regnete, war die Straße menschenleer.
Der kleine Gavroche trat unbefangen näher. Das Wasser troff ihm aus den Haaren. Gueulemer redete ihn an:
»Bub, bist du ein Mann?«
Gavroche zuckte die Achseln.
»Ein Bub wie ich ist ein Mann, und Männer wie ihr sind Buben.«
»Der Junge hat keine kurze Zunge«, meinte Babet.
»In Paris sind die Kinder nicht auf den Mund gefallen«, versicherte Brujon.
»Was wollt ihr?« fragte Gavroche.
»Du sollst da an dem Rohr rauf«, erklärte Montparnasse.
»Mit ’m Stück Witwe.«
»Und oben das Seil vertäuen.«
»Und dann?« fragte Gavroche.
»Das ist alles.«
»Willst du?« fragte Brujon.
Dem Jungen schien die Frage albern. Er zog stumm die Schuhe aus.
Gueulemer packte Gavroche, hob ihn auf das Dach der Baracke, deren morsche, wurmstichige Bretter sich unter dem Gewicht des Knaben bogen, und warf ihm den Strick zu, dessen Enden Brujon inzwischen verknotet hatte. In diesem Augenblick beugte sich Thénardier vor und man sah sein fahles Gesicht.
Gavroche erkannte ihn.
Holla, da ist ja Papa, dachte er, na, wenn schon!
Dann nahm er den Strick zwischen die Zähne und kletterte hinauf.
Bald saß er rittlings auf der Mauer und befestigte den Strick am Querbalken des einen Fensters.
Einen Augenblick später stand Thénardier auf der Straße.
Sobald seine Füße den Boden berührt hatten, fühlte er weder Müdigkeit noch Angst. Alle Schrecken wichen wie Nebel von ihm, sein grausamer Verstand erwachte, und seine erste Frage war:
»Habt ihr heute noch was vor?«
Gavroche saß in der Ecke und zog sich seine Schuhe an. Als er sah, daß die Männer sich nicht mehr um ihn kümmerten, ging er. Er verschwand um die Ecke der Rue des Ballets. Jetzt nahm Babet Thénardier beiseite.
»Hast du dir den Buben angesehen?«
»Welchen Buben?«
»Der dir den Strick gebracht hat?«
»Nicht näher.«
»Ich weiß nicht, aber ich glaube, es war dein Sohn.«
»Wirklich?«
Fünftes Buch
Freude und Leid
Im Glanz …
Wie der Leser gesehen hat, war Eponine, als sie das Haus in der Rue Plumet entdeckte, zunächst nicht darauf verfallen, die Banditen dahin zu führen; sie bemühte sich sogar, ihr Geheimnis zu bewahren. Dann hatte sie Marius dahin gebracht. Der hatte tagelang das Gitter bewacht und war schließlich, wie Romeo in Julias Garten, eingedrungen. Nur hatte er es leichter gehabt als Romeo, denn dieser mußte eine Mauer übersteigen, Marius aber brauchte nur eine morsch gewordene Stange aus dem Gitter zu lösen und sich durchzuzwängen. Er war schlank. Da die Straße, wie wir bereits nannten, wenig begangen war, lief Marius kaum Gefahr, bei seinen nächtlichen Besuchen bemerkt zu werden.
Seit
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