Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
stand im vorigen Jahrhundert ein Gebäude, von dem auch damals nur mehr die drei Stock hohe Hinterwand übriggeblieben war. Diese Ruine zeigte noch zwei Fenster.
Die Abbruchstelle war von einem morschen Bretterzaun umfriedet; an der Straßenseite stand eine kleine Baracke. Die Tür im Zaun war noch vor einigen Jahren mit einer Klinke versehen.
Auf dem First dieser verfallenen Mauer landete Thénardier gegen drei Uhr morgens.
Wie war er dahin gelangt? Hatte er sich der Leitern bedient, welche die Dachdecker zurückgelassen hatten, und war mit ihrer Hilfe über den Hof Charlemagne, den Hof Saint-Louis und die Rondenmauer hierher gelangt? Diese Strecke zeigte Klüfte, die unüberbrückbar schienen.
Es ist oft schier unmöglich, die erstaunlichen Leistungen entspringender Sträflinge zu begreifen. Der Mann, der aus Kerkerhaft flieht, ist inspiriert. Er hat seinen besonderen Stern, der über dieser geheimnisvollen Flucht leuchtet.
Wie dem auch sei, jetzt saß Thénardier schweißtriefend, vom Regen durchnäßt, mit zerfetzten Kleidern, zerschundenen Händen, Knien und Ellbogen, auf dem Giebel jener Mauer. Er legte sich der Länge nach hin, denn er war zu Tode erschöpft.
Totenblaß, verzweifelt wartete er, von dem Gedanken gepeinigt, daß es nun bald tagen würde; binnen kurzem würde es von der benachbarten Kirche Saint-Paul vier Uhr schlagen, dann wurde der Wachtposten bei der Ablösung schlafend gefunden. Er blickte in die Tiefe, starrte auf das nasse, schwarze Straßenpflaster hinab, das ihm den Tod androhte und doch die Freiheit versprach.
Hatten seine drei Komplizen, denen die Flucht geglückt war, ihn bemerkt, würden sie ihm zu Hilfe kommen? Er lauschte. Aber außer einer Polizeistreife war seit einer Stunde niemand durch die Straße gekommen.
Es schlug vier Uhr. Thénardier zitterte. Kurz danach hörte er aus dem Gebäude des Gefängnisses jenen verworrenen Lärm, der immer einem entdeckten Fluchtversuch folgt. Türen wurden zugeschlagen, Gitter knarrten in den Angeln, Posten eilten hin und her, Gewehrkolben wurden auf den Boden gestoßen. Durch die Fenster sah man Lichter treppauf, treppab huschen; die Feuerwehr war aus der benachbarten Kaserne geholt worden, und die Helme glitzerten im Widerschein der Fackeln auf dem Dach. Gleichzeitig bemerkte Thénardier von der Bastille herüber einen fahlen Lichtschein, der am Horizont den Tag ankündigte.
In seiner Angst gewahrte er plötzlich in der Straße, die noch imDunkeln lag, einen Mann, der an den Mauern entlangschlich, von der Rue Pavée herüberkam und den Bauplatz betrat, der an Thénardiers Mauer stieß. Diesem Mann folgte ein zweiter, der ebenso vorsichtig näher kam, diesem ein dritter und vierter. Als sich die Leute wieder vereinigt hatten, klinkten sie die Tür in dem Zaun auf und traten in den Schatten der Baracke. Jetzt standen sie direkt unter Thénardier. Offenbar hatten sie diesen Platz gewählt, um unbeachtet beraten zu können. Thénardier konnte ihre Gesichter nicht erkennen, horchte aber mit den scharfen Ohren des Verzweifelten, der keine Rettung mehr erhofft.
Jetzt schimmerte ihm ein Hoffnungsstrahl entgegen. Diese Leute sprachen Argot.
»Abschrammen«, sagte der erste. »Hier ist nichts zu drehen.«
»Es regnet, daß das Feuer des Teufels ausgehen könnte. Die Polente wird gleich vorbeikommen. Da drüben steht auch einer. Besser, wir hauen ab.«
»Warten wir doch ein bißchen«, meinte der dritte, »es brennt nicht. Wer weiß, ob er uns nicht noch braucht.«
Jetzt erkannte Thénardier Montparnasse, der eine gewähltere Sprache bevorzugte. Es waren seine Freunde.
Brujon antwortete ungeduldig, aber immer noch leise.
»Was du dir wieder ausgedacht hast! Der Schubiak stellt sich dämlich an. Der hat’s noch nicht heraus.«
»Aber man läßt seine Freunde nicht so einfach sitzen«, erwiderte Montparnasse mürrisch.
»Wir können gar nichts für ihn tun«, meinte Brujon, »fort mit Schaden! Jeden Augenblick kann die Hand auf unserer Schulter liegen.«
Montparnasse leistete nur schwachen Widerstand. In der Tat hatten die vier Männer mit jener Treue, die gerade Verbrecher auszeichnet, eine ganze Nacht im Bereich der Force zugebracht, was für sie immerhin gefahrvoll war; bis jetzt hatten sie gehofft, Thénardier irgendwo auf einer Mauer auftauchen zu sehen. Nun aber verloren sie die Hoffnung, und sogar Montparnasse, der ein bißchen Thénardiers Schwiegersohn war, gab nach. Einen Augenblick noch, und sie würden gehen. Thénardier
Weitere Kostenlose Bücher