Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Wieviel verdienen Sie als Advokat?«
»Nichts«, sagte Marius mit fast wilder Entschlossenheit.
»Nichts? Dann haben Sie also nur die zwölfhundert Franken jährlich, die ich Ihnen gebe.«
Marius antwortete nicht.
»Ah, demnach ist wohl das Mädchen reich?«
»So reich wie ich.«
»Keine Mitgift?«
»Nein.«
»Aussichten?«
»Ich glaube kaum.«
»Ohne nichts! Und was ist der Vater?«
»Das weiß ich nicht.«
»Und wie heißt Sie?«
»Fräulein Fauchelevent.«
»Fauche – was?«
»Fauchelevent.«
»Uff!«
»Herr«, schrie Marius.
»Soso«, fuhr Gillenormand fort, »einundzwanzig Jahre alt, ohne Beruf, zwölfhundert Franken Einkommen! Die Frau Baronin Pontmercy wird selbst zur Grünzeughändlerin gehen, um für zwei Sous Petersilie zu holen.«
»Mein Herr«, flehte Marius, der sich an seine letzte Hoffnung klammerte, »ich bitte und beschwöre Sie, erlauben Sie mir, das Mädchen zu heiraten.«
Der Alte begann zu lachen.
»Soso, Sie haben sich wohl gedacht: zu blöd, jetzt muß ich zu diesem alten Trottel, zu dieser lächerlichen Schabracke da laufen! Schade, daß ich nicht fünfundzwanzig Jahre alt bin! Na, ich werde ihm sagen: Alter Idiot, du bist ja todfroh, mich zu sehen, ich habe Lust zu heiraten, ich möchte ein Fräulein Soundso heiraten, die Tochter des Herrn Weißnichtwie, Schuhe habe ich nicht, ein Hemd auch nicht, aber was schadet es, ich schmeiße meine Karriere, meine Zukunft, mein Leben ins Wasser, lade mir eine Frau auf den Hals: das will ich, und du hast ja und amen zu sagen! Na, und das alte Fossil wird eben ja sagen, haben Sie sich gedacht. Ja, mein Junge, von mir aus ja, tu was du willst, wird er sagen, der alte Trottel,heirate deine Pousselevent, deine Coupelevent … nein, mein Herr, niemals! Niemals!«
An dem Ton, in dem dieses Niemals ausgesprochen wurde, erkannte Marius, daß er nichts mehr zu hoffen hatte. Langsam ging er, gebeugt, taumelnd fast zur Tür. Gillenormand sah ihm nach. Als Marius die Tür öffnete, sprang Gillenormand mit einem Satz herzu, faßte ihn am Kragen und riß ihn zurück. Dann drückte er ihn in einen Stuhl und rief:
»Erzähl mir die Geschichte!«
Marius war verblüfft.
»Vorwärts, erzähl mir die Liebesgeschichte! Sapristi, sind die jungen Leute heute dumm!«
»Vater …«, begann Marius.
Der Alte begann zu strahlen.
»Ja, sag ›Vater‹ zu mir, dann ist alles besser. Du hast also wirklich keinen Sou? Angezogen bist du wie ein Strolch.«
Er zog eine Lade auf, entnahm ihr eine Börse und legte sie auf den Tisch.
»Da hast du hundert Louis, kauf dir wenigstens einen Hut.«
»Vater«, fuhr Marius fort, »lieber Vater, wenn Sie wüßten, wie ich sie liebe! Sie können sich das nicht vorstellen! Das erstemal sah ich sie im Luxembourg. Ich achtete damals kaum auf sie. Dann, ich weiß selbst nicht, wie das gekommen ist, verliebte ich mich. Ach, ich bin so unglücklich geworden! Jetzt seh ich sie täglich in ihrem Hause, aber ihr Vater weiß nichts davon. Stell dir vor, sie wollen verreisen! Ich komme immer abends in den Garten. Ihr Vater will sie nach England mitnehmen, da habe ich gedacht: ich gehe zu meinem Großvater und erzähle ihm die Sache. Ich werde sonst verrückt oder springe ins Wasser. Bevor ich verrückt werde, muß ich sie unbedingt heiraten. Das ist die reine Wahrheit. Sie wohnt in einem kleinen Gartenhaus hinter einem Gitter, Rue Plumet. Es ist auf der Seite des Invalidendoms.«
Vater Gillenormand saß vergnügt vor Marius. Er genoß den Bericht seines Enkels und ergötzte sich dabei an einer Prise Tabak. Als er von der Rue Plumet sprechen hörte, ließ er den Tabak fallen.
»Rue Plumet! Warte mal, da ist doch auch eine Kaserne? Ja, ich erinnere mich schon. Dein Vetter Théodule hat mir davon erzählt. Der Lanzenreiter. Ein Mädchen? Jaja, Rue Plumet. Sie hieß früher Rue Blomet. Jetzt weiß ich alles. Von der Kleinen hinter dem Gitter habeich auch gehört. Die reinste Pamela! Du hast also doch keinen schlechten Geschmack. Sie soll sehr propre sein. Unter uns gesagt, ich glaube, dieser Aff ’ von den Lanzenreitern hat ihr ein wenig die Kur geschnitten. Aber ich weiß nicht, wie weit er dabei gekommen ist. Übrigens egal. Man braucht ihm ja auch nichts zu glauben. Der quatscht! Marius, ich finde das durchaus richtig, daß ein Mann in deinem Alter sich verliebt. Ich ziehe die Verliebten den Jakobinern vor. Lieber sollst du hinter zwanzig Weibern herlaufen als hinter einem Robespierre. Was mich betrifft, so kann ich aufrichtig
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