Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Marius:
»Herr …«
Gillenormand hatte gehofft, daß Marius sich in seine Arme stürzenwerde. Jetzt war er mit Marius und sich selbst unzufrieden. Er fühlte, daß er grob und Marius kalt war. Qualvoll empfand er den Widerstreit zwischen seinem weichgestimmten Innern und seiner äußerlichen Rauheit. Wieder wurde er bitter.
»Was wollen Sie also?«
Dieses also bedeutete: wenn du mich schon nicht umarmen willst. Aber Marius sah nur seinen Großvater, dessen Gesicht marmorweiß war.
»Herr …«
»Sie kommen wohl, um mich um Verzeihung zu bitten? Haben Sie begriffen, wie unrecht Sie hatten?«
Er hoffte, der Junge würde darauf eingehen. Aber Marius erschauerte. Er glaubte, man verlange von ihm einen Verrat an seinem Vater.
»Nein, mein Herr.«
»Ja, was wollen Sie denn dann?« rief der Alte wütend.
Marius trat einen Schritt näher und sagte jetzt mit schwacher, zitternder Stimme:
»Mein Herr, haben Sie Mitleid mit mir!«
Dieses Wort rührte Gillenormand. Aber es kam zu spät. Der Alte stand auf, stützte sich mit beiden Händen auf seinen Stock und sah Marius an, der gebeugt vor ihm stand.
»Mitleid mit Ihnen, Herr? Ein junger Bursche bittet einen einundneunzigjährigen Greis um Mitleid? Sie stehen am Anfang des Lebens, ich am Ende! Sie gehen ins Theater, auf den Ball, ins Café, zum Billard, Sie haben Witz, gefallen den Frauen, sind hübsch; ich sitze mitten im Sommer am Kamin. Sie sind reich, denn Sie besitzen alles, was man braucht, um glücklich zu sein, ich aber bin arm wie das Alter, gebrechlich und einsam. Sie haben zweiunddreißig Zähne, einen gesunden Magen, lebhafte Augen, Kraft, Hunger, einen Wald von schwarzen Haaren, ich aber habe nicht einmal mehr weiße Haare, keine Zähne, meine Beine werden immer schwächer, und mein Gedächtnis läßt nach. So steht’s mit mir. Sie aber haben eine sonnige Zukunft vor sich, während ich in die Nacht hineinschreite. Sie sind verliebt, selbstverständlich, während mich kein Mensch mehr sehen mag, und Sie verlangen von mir Mitleid? Weiß Gott, das ist eine Situation, die Molière versäumt hat. Wenn ihr Advokaten so vor Gericht auftretet … na, alle Achtung! Zum Lachen ist das.«
»Mein Herr«, sagte Marius, »ich weiß, daß Ihnen mein Besuchunlieb ist, aber ich bin nur gekommen, Sie um etwas zu bitten, und dann gehe ich sofort wieder.«
»Sie sind ein Schafskopf!« schrie der Greis, »wer sagt denn, daß Sie gehen sollen?«
Gillenormand begriff, daß der rauhe Empfang Marius verschüchtert hatte. Da es aber seine Art war, Kummer immer sofort in Zorn umzusetzen, stieg seine Härte nur. Marius begriff ihn nicht, und das machte ihn wütend.
»Sie haben mein Haus verlassen, um, weiß der Teufel, wohin zu laufen, Sie wollten, das begreift man ja, bequemer außer Haus leben, sich amüsieren! Kein Lebenszeichen haben Sie uns gegeben! Schulden haben Sie gemacht, ohne mir zu sagen, daß ich sie bezahlen soll, haben sich wie ein Wildling benommen, und jetzt, nach vier Jahren, kommen Sie hierher und haben nichts weiter zu sagen?«
Dieser energische Versuch, seinen Enkel zärtlicher zu stimmen, brachte Marius nur zum Schweigen. Gillenormand kreuzte die Arme. Diese Gebärde bedeutete bei ihm einen Entschluß.
»Kommen wir zum Schluß«, sagte er bitter, »Sie wollen etwas von mir. Was ist es?«
»Mein Herr«, sagte Marius mit dem Gefühl eines Mannes, der in einen Abgrund stürzt, »ich will Sie um die Erlaubnis bitten, zu heiraten!«
Gillenormand schellte. Baske erschien in der Tür.
»Rufen Sie meine Tochter.«
Gleich darauf ging die Tür auf, und Fräulein Gillenormand erschien. Marius stand da, stumm und mit herabhängenden Armen, wie ein Verbrecher, der überführt worden ist. Gillenormand ging in dem Zimmer auf und ab. Endlich wandte er sich zu seiner Tochter:
»Es ist weiter nichts, nur Herr Marius. Du kannst ihm guten Tag sagen. Der Herr wünscht zu heiraten. So, das ist alles. Jetzt kannst du wieder gehen.«
Diese rauhe Sprechweise bewies, daß der Greis sehr erregt war. Die Tante sah Marius bestürzt an, schien ihn kaum zu erkennen, sagte kein Wort und verschwand auf den Befehl ihres Vaters wie ein Strohhalm vor einem Orkan. Gillenormand hatte sich an den Kamin gelehnt.
»Also heiraten wollen Sie? Mit einundzwanzig Jahren! Sie haben alles arrangiert, brauchen nur noch meine Erlaubnis einzuholen. Eine kleine Formalität … Setzen Sie sich, Herr. Also Sie wollenheiraten? Und wen, wenn man vorher fragen darf? Haben Sie einen Beruf? Vermögen?
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