Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
Vom Netzwerk:
»Vaterland«.
    Sein Tod, mit dem man bereits gerechnet hatte, wurde vom Volk als Verlust, von der Regierung als kritischer Augenblick gefürchtet. Die Trauer würde allgemein sein. Wie alle Bitterkeit, konnte sie sich leicht in eine Revolte verwandeln. Und dies geschah.
    Am Abend des 4. und am Morgen des 5. Juni, der für das Begräbnis Lamarques bestimmt war, machte die Vorstadt Saint-Antoine, durch die der Kondukt geführt werden sollte, einen beunruhigenden Eindruck. In diesem wirren Straßennetz bereitete sich die Unruhe vor. Man bewaffnete sich, so gut man konnte. Tischler schleppten Schraubstöcke herbei, um »Türen zu rammen«. Einer hatte sich aus einem Haken, dessen Ende er abbrach und den er zuspitzte, einen Dolch gemacht. Ein anderer fieberte so danach,am Angriff teilzunehmen, daß er seit drei Tagen in den Kleidern schlief. Ein gewisser Jacqueline, ein regsamer Mann, stellte sich auf belebten Plätzen auf und redete die Arbeiter an, die vorbeikamen.
    »Hallo, du!«
    Er gab ihnen zehn Sous für Wein, pro Mann.
    »Hast du Arbeit?«
    »Nein.«
    »Geh zu Filspierre zwischen dem Tor von Montreuil und dem von Charonne, dort bekommst du Arbeit.«
    Bei Filspierre wurden Kugeln und Waffen verteilt.
    Bekannte Führer waren immer auf den Beinen, rannten von einem zum andern, um ihre Getreuen zu sammeln. Bei Batélemy und Capel unterhielten sich die Krieger ganz ernsthaft folgendermaßen:
    »Wo hast denn du deine Pistole?«
    »Unter der Bluse. Und du?«
    »Unter dem Hemd.«
    Am 5. Juni also, an einem Tage, der bald Regen, bald Sonnenschein brachte, bewegte sich der Leichenzug des Generals Lamarque mit offiziellem militärischem Pomp, der wohl aus Vorsicht etwas vergrößert worden war, durch Paris. Zwei Bataillone mit verhüllten Trommeln und gesenkten Gewehren, zehntausend Nationalgardisten und die Artilleriebatterie der Nationalgarde folgten dem Sarg. Der Leichenwagen wurde von jungen Leuten gezogen. Veteranenoffiziere gingen hinterher und trugen Lorbeerzweige. Dann kam eine unzählige, seltsam wilderregte Menge: Sektionäre der »Freunde des Volkes«, die Studenten der juristischen und medizinischen Fakultät, politische Flüchtlinge aus allen möglichen Ländern, die ihre Nationalfahne zeigten, Spanier, Italiener, Deutsche, Polen, schließlich Kinder mit grünen Palmzweigen, die Steinmetzen und Zimmerleute, die gerade im Streik waren, die Buchdrucker, erkennbar an ihren Papiermützen. Sie alle marschierten schreiend und aufgeregt hinter dem Sarge her, schwangen Stöcke und sogar Säbel, hielten keinerlei Ordnung. Die Kolonnen begannen Führer zu wählen. Einer, der ein Paar Pistolen ganz offen trug, schien eine Heerschau seiner Truppe abzuhalten. In den Nebenalleen der Boulevards, auf den Balkons, Bäumen, Fenstern und Dächern wimmelte es von Frauen und Kindern. Alle blickten angstvoll auf den Zug herab. Eine bewaffnete Menge zog vorüber, eine verängstigte sah zu.
    Die Regierung bewahrte vorläufig ihre abwartende Haltung,hielt aber die Hand am Degen. Marschbereit konnte man auf dem Platz Ludwigs XV. vier Schwadronen Karabiniere sehen; im Quartier Latin und am Jardin des Plantes stand die Munizipalgarde, an der Halle-aux-Vins eine Schwadron Dragoner, auf dem Grèveplatz die Hälfte des zwölften Regiments leichter Reiter, die andere Hälfte an der Bastille. Bei den Cölestinern waren die sechsten Dragoner postiert, im Hof des Louvre war die Artillerie gesammelt. Die übrigen Truppen standen in den Kasernen in Bereitschaft, die Regimenter nicht zu zählen, die rings um Paris zusammengezogen waren. Die beunruhigte Staatsgewalt hielt vierundzwanzigtausend Soldaten in der Stadt und dreißigtausend in der Umgebung bereit.
    In dem Leichenzug kreisten die wildesten Gerüchte. Ein Mann, der unbekannt blieb, behauptete, zwei Werkmeister, die man gewonnen habe, würden dem Volk die Tore einer Waffenfabrik öffnen. Die meisten Leute waren gleichzeitig begeistert und niedergeschlagen. Man sah in der Menge auch wahre Verbrechertypen, Leute, die es auf eine Plünderung abgesehen hatten. Wenn Sümpfe aufgewühlt werden, steigt der Kot an die Oberfläche. Eine geschickte Polizei weiß sich dieses Phänomen zunutze zu machen.
    Der Zug bewegte sich mit fiebernder Langsamkeit vom Hause des Toten über die Boulevards zur Bastille. Zuweilen regnete es, aber die Menge achtete nicht darauf. Einige Zwischenfälle wurden bemerkt. Der Herzog von Fitz-James, der auf seinem Balkon stand, wurde, weil er den Hut nicht abnahm, mit Steinen

Weitere Kostenlose Bücher