Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
dieser Worte mehr, als sie ihn verstand. Sie wurde so blaß, daß sie selbst in der Dunkelheit weiß erschien.
»Was meinst du damit?« fragte sie.
Marius sah sie an, blickte zum Himmel auf und antwortete:
»Nichts.«
Als er den Blick wieder senkte, sah er, daß Cosette lächelte.
»Ach, wie dumm wir sind! Ich habe eine Idee, Marius.«
»Was?«
»Reise du auch dahin! Ich werde dir schon sagen, wo wir sind.«
Marius war erwacht, die Wirklichkeit stand wieder klar vor ihm.
»Ich soll auch reisen? Bist du verrückt? Dazu braucht man Geld, und ich habe keines. Ich schulde Courfeyrac jetzt schon zehn Louis. Ich trage einen alten Hut, der keine drei Franken wert ist, mein Rock hat keine Knöpfe, das Hemd ist zerrissen, die Ärmel sind durchgescheuert; meine Schuhe lassen Wasser durch. Seit sechs Wochen denke ich nicht daran, und ich habe auch dir nichts davon gesagt. Es geht mir sehr schlecht, Cosette, und du liebstmich, weil du mich nur bei Nacht siehst. Wenn du mir bei Tag begegnetest, würdest du mir einen Sou schenken. Ich soll reisen? Nicht einmal den Paß kann ich bezahlen.«
So saßen sie lange. Erst als er Cosette schluchzen hörte, wandte er sich um.
»Liebst du mich?« fragte er.
»Ich bete dich an.«
»Weine nicht«, fuhr er fort. »Willst du um meinetwillen aufhören zu weinen?«
»Liebst du mich denn?«
»Cosette, ich habe niemals einem Menschen mein Ehrenwort gegeben, denn ich scheue mich davor. Ich fühle, daß mein Vater neben mir steht. Jetzt aber gebe ich dir mein heiligstes Ehrenwort, daß ich sterbe, wenn du fortgehst.«
Cosette hörte auf zu weinen. Sie erschauerte vor der Kälte einer Wahrheit, die sie begriff.
»Höre also: warte morgen nicht auf mich.«
»Warum?«
»Erst übermorgen.«
»Aber warum denn?«
»Du wirst sehen. Wir müssen einen Tag opfern, um vielleicht alles zu gewinnen.« Leise fuhr er fort: »Er weicht nie von seinen Gewohnheiten ab. Er empfängt nur abends.«
»Von wem sprichst du?« fragte Cosette.
»Ich? Ich habe nichts gesagt.«
»Hoffst du?«
»Warte bis übermorgen.«
Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände, erhob sich auf die Fußspitzen und wollte in seinen Augen die Hoffnung lesen.
»Übrigens«, fuhr Marius fort, »du mußt meine Adresse wissen, es kann ja allerlei eintreten. Ich wohne bei meinem Freunde Courfeyrac, Rue de la Verrerie Nr. 16.«
Er griff in seine Tasche, zog ein Taschenmesser heraus und schrieb mit der Klinge auf die Mauer:
»16, Rue de la Verrerie.«
Als er ging, war die Straße menschenleer. Eponine war den Banditen bis zum Boulevard nachgegangen.
Ein altes und ein junges Herz
Vater Gillenormand zählte damals geschlagene einundneunzig Jahre. Noch immer wohnte er mit Fräulein Gillenormand in der Rue des Filles-du-Calvaire Nr. 6, in seinem Hause. Er war, wie unser Leser sich erinnert, einer von jenen Greisen, die den Tod aufrecht erwarten und die das Alter nicht zu beugen vermag.
Eines Abends saß er allein in dem Salon mit den Hirtenszenen, hatte die Füße auf den Kaminvorsatz gestützt und hielt, ohne zu lesen, ein Buch in Händen.
Er war nach alter Mode als Incroyable gekleidet. Hätte er sich so auf der Straße gezeigt, wären ihm die Kinder nachgelaufen.
Während er nachsann, trat sein alter Diener, Baske genannt, ein und meldete:
»Wünschen der Herr Herrn Marius zu empfangen?«
Der Greis fuhr auf und erblaßte. All sein Blut strömte zum Herzen.
»Was für ein Herr Marius?« stotterte er.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte der Baske verschüchtert, »ich habe ihn nicht gesehen. Nicolette hat mir gesagt, es sei ein junger Mann, und ich sollte ihn als Herrn Marius melden.«
»Laß ihn eintreten.«
Er blieb in der gleichen Haltung sitzen, starrte nur nach der Tür. Sie ging auf, und ein junger Mann trat ein. Es war Marius.
Er blieb an der Tür, als ob er eine Aufforderung, näher zu treten, erwarte.
Seine fast elende Kleidung konnte man in der Dunkelheit – er stand im Schatten des Lampenlichts – nicht erkennen. Nur sein kluges, ernstes, seltsam trauriges Gesicht war sichtbar.
Er war es! Endlich, nach vier Jahren, kam er. Mit einem einzigen Blick suchte Gillenormand ihn zu überschauen. Er fand ihn schön, vornehm, von edler Haltung. Er hatte Lust, die Arme zu öffnen, ihn zu rufen, Worte der Liebe stiegen auf aus seiner Brust und traten auf die Lippen. Aber nach dem Gesetz, das diese seltsame Natur bestimmte, verwandelten sie sich in rauhe Rede.
»Was wollen Sie hier?« fragte er.
Verlegen antwortete
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