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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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sagen, daß die Weiber die einzigen Sansculotten sind, die mir jemals gefallen haben. Die Hübschen, versteht sich. Dagegen ist nichts einzuwenden. Deine Kleine empfängt dich also ohne Wissen des Herrn Papa. Auch das ist eine bewährte Sache. Derlei hab ich auch erlebt. Nicht nur einmal. Weißt du, was man da tut? Man stellt sich nicht blöd. Man wird nicht tragisch. Man läuft nicht gleich zum Herrn Bürgermeister mit der Schärpe. Amüsiert euch, Sterbliche, aber heiratet nicht! Man geht zu Großpapa, der im Grunde genommen recht gutmütig ist und immer noch ein paar Rollen Louisdor in einer alten Lade hat, man sagt: Großpapa, so steht die Sache. Und Großpapa antwortet: Höchst einfach! Die Jugend muß voran, das Alter weicht aus. Ich war einmal jung, du wirst einmal alt werden. Du zahlst es dann deinen Enkeln zurück. Da hast du zweihundert Pistolen. Amüsier dich, mein Lieber! So muß man es machen. Verstehst du?«
    Marius schüttelte den Kopf. Er war sprachlos.
    Der Alte lachte, blinzelte und sagte schließlich:
    »Dummkopf, nimm sie dir als Mätresse!«
    Marius erblaßte.
    Alles das, Rue Blomet, Pamela, Kaserne, Lanzenreiter, war ihm wie eine Phantasmagorie erschienen. Das konnte sich nicht auf Cosette beziehen, die rein war wie eine Lilie. Der Alte schwätzte. Aber als er gesagt hatte, nimm sie dir als Mätresse, hatte Marius das Gefühl, ein Degen durchbohre sein Herz. Er stand auf, nahm seinen Hut vom Boden, trat zur Tür und sagte:
    »Vor fünf Jahren haben Sie meinen Vater beschimpft. Heute beschimpfen Sie meine Frau. Jetzt verlange ich nichts mehr von Ihnen, mein Herr. Adieu.«
    Vater Gillenormand tat den Mund auf, breitete die Arme aus, versuchte aufzustehen. Aber bevor er ein Wort hervorbrachte, hatte die Türe sich wieder geschlossen, Marius war verschwunden.

Sechstes Buch
Wohin?
Jean Valjean
    An demselben Tage, um vier Uhr nachmittags, saß Jean Valjean einsam auf einer Böschung des Marsfeldes. Er trug seinen Arbeiteranzug, eine graue Leinenhose und seine Mütze mit dem Schirm, der das halbe Gesicht verdeckte.
    Mit Cosette war er jetzt glücklich, aber wenn jener Schrecken von ihm gewichen war, so hatte ein neuer vor ein oder zwei Wochen sich seiner Gedanken bemächtigt. Auf dem Boulevard hatte er Thénardier gesehen. Dank seiner Verkleidung war er von Thénardier nicht erkannt worden, aber Jean Valjean war dem Verbrecher inzwischen mehrmals begegnet und hatte sich die Gewißheit verschafft, daß Thénardier in diesem Stadtviertel lebte. Das war Grund genug, einen entscheidenden Entschluß zu fassen. Thénardier: das war die Gefahr schlechthin. Überdies war ganz Paris in Unruhe. Die politischen Wirren waren für einen Mann, der sich zu verbergen wünschte, recht unbequem, denn nur zu leicht konnten die Spitzel, wenn sie nach einem Pépin oder Morey Jagd machten, einen Jean Valjean fangen. Darum hatte er sich entschlossen, Paris und Frankreich zu verlassen und nach England überzusiedeln. Er hatte Cosette davon gesagt. Binnen acht Tagen wollte er reisen. Jetzt saß er auf der Böschung des Marsfeldes und erwog alle Schwierigkeiten, diese Reise zu bewerkstelligen und sich einen Paß zu verschaffen.
    Er war von Sorgen bedrückt.
    Ein unerklärlicher Vorfall hatte ihn aufgeschreckt. Als er heute morgen, noch bevor Cosette ihre Fensterläden geöffnet hatte, im Garten spazierenging, hatte er an der Mauer eine Schrift gesehen:
    »16, Rue de la Verrerie.«
    Sie war noch ganz frisch. Eine Brennessel, die an der Wand wuchs, hatte er weiß bestaubt gefunden. Also war diese Inschrift heute nacht an die Mauer gekommen. Eine Adresse? Eine Warnung? Auf alle Fälle waren Fremde in den Garten eingedrungen. Er erinnerte sich der seltsamen Vorkommnisse, die schon einmaldas Haus beunruhigt hatten. Jedenfalls wollte er nicht mit Cosette darüber sprechen, denn er befürchtete, sie zu erschrecken.
    Während er so sann, warf die Sonne einen Schatten neben ihn, jemand stand auf der Böschung. Jean Valjean wollte sich umwenden, als ihm ein vierfach gefaltetes Blatt auf die Knie fiel. Er nahm es, faltete es auseinander und fand mit großen Buchstaben folgendes Wort aufgeschrieben:
    »Umziehen!«
    Jean Valjean sprang auf. Schon war niemand mehr auf der Böschung. Als er sich umsah, bemerkte er einen Burschen, größer als ein Kind, kleiner als ein Mann, der in einer grauen Bluse steckte und eine staubfarbene Samthose anhatte. Der Junge schwang sich gerade über den Grenzgraben des Marsfeldes. Sehr nachdenklich ging Jean

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