Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
sie.
»Cosette!« stammelte Jean Valjean, »du bist es! Großer Gott!« Er schloß sie in seine Arme. »Also du bist es! Du verzeihst mir also!«
Marius, der die Lider niederschlagen mußte, um die Tränen zu unterdrücken, trat vor und murmelte, krampfhaft mit dem Schluchzen kämpfend:
»Vater!«
»Also auch Sie verzeihen mir?«
Marius konnte nicht sprechen.
Jetzt saß Cosette bei dem Greis, strich ihm seine weißen Haare aus der Stirn und küßte ihn.
Unendlich beglückt, ließ Jean Valjean sie gewähren. Es war, als ob Cosette ein wenig begriffe und die Schuld Marius’ abtragen wollte.
»Ach«, stammelte Jean Valjean, »wie dumm man doch ist! Ich glaubte schon, ich würde sie nie wiedersehen. Stellen Sie sich vor, Herr Pontmercy, ich dachte mir: Nie werde ich sie wiedersehen. Wie dumm! Man zählt nie auf Gott. Oh, ich war sehr unglücklich. Wahrhaftig, ich mußte Cosette zuweilen sehen. Auch ein Herz braucht, wie ein Hund, den Knochen, an dem es nagen kann. Aber ich begriff, daß ich überzählig war. Wohl überlegte ich mir alles. Sie brauchen mich nicht mehr, dachte ich, bleib in deinem Winkel, man darf sich nicht ewig den Leuten aufdrängen. Aber, Gott sei gesegnet, ich sehe sie wieder. Weißt du, Cosette, daß dein Mann sehr hübsch ist? Ach, Herr Pontmercy, erlauben Sie, daß ich du zu ihr sage. Es ist nur für kurze Zeit.«
»Das war schlecht von dir«, sagte Cosette, »daß du uns so allein gelassen hast. Wo warst du denn nur? Früher dauerten deine Reisenimmer nur drei oder vier Tage. Ich habe oft Nicolette geschickt, aber immer bekam sie den Bescheid: noch verreist. Seit wann bist du denn zurück? Warum hast du uns nicht gleich verständigt? Marius, er ist sehr krank, fühle nur, wie seine Hand kalt ist!«
»Also ihr seid da! Sie verzeihen mir also, Herr Pontmercy!«
Bei diesem Wort schmolz Marius’ Herz, er schrie auf.
»Cosette, hörst du es? Er verlangt, daß ich ihm verzeihe! Weißt du auch, was er getan hat? Er hat mir das Leben gerettet. Mehr noch, dich hat er mir geschenkt. Und dann hat er sich selbst geopfert. Und ich Undankbarer, Unbarmherziger, ich stehe da, und er sagt zu mir: Danke! Cosette, wenn ich mein Leben lang vor diesem Mann auf den Knien gelegen wäre, es wäre nicht genug! Die Barrikade, die Kloake, das Schlammloch – alles für mich und für dich, Cosette! Tausendfach hat er mich vor dem Tod bewahrt und sich dem Tode ausgesetzt! Er besitzt jede Art von Mut, Tugend, Heroismus – er ist ein Engel!«
»Still«, sagte Jean Valjean, »warum sagen Sie das?«
»Warum haben Sie nichts gesagt? Sie sind selbst schuld. Sie retten den Leuten das Leben und verstecken sich! Mehr noch, unter dem Vorwand, sich zu demaskieren, verleumden Sie sich selbst! Es ist schrecklich!«
»Ich habe die Wahrheit gesagt«, antwortete Jean Valjean.
»Nein, denn nur die ganze Wahrheit ist wahr. Sie sind Madeleine, warum haben Sie das nicht gesagt? Sie haben Javert gerettet, warum haben Sie es verheimlicht? Ich schulde Ihnen mein Leben, warum sagten Sie es nicht?«
»Ich dachte wie Sie. Sie hatten ja recht. Ich mußte gehen. Wenn Sie von der Kloake gewußt hätten, hätten Sie mich gezwungen, bei Ihnen zu bleiben. Also mußte ich schweigen. Wenn ich gesprochen hätte, wäre ich Ihnen hinderlich gewesen.«
»Wer? Uns hinderlich? Glauben Sie wirklich, daß Sie jetzt hierbleiben werden? Nein, wir nehmen Sie mit. Großer Gott, wenn ich bedenke, daß nur ein Zufall mich aufgeklärt hat! Wir nehmen Sie gleich mit. Sie gehören zu uns. Sie sind Cosettes und mein Vater. Keinen Tag mehr sollen Sie in diesem schrecklichen Haus zubringen.«
»Ich werde morgen nicht mehr hier sein, aber auch nicht bei Ihnen.«
»Was meinen Sie damit?« fragte Marius. »Oh, wir werden nichterlauben, daß Sie wieder verreisen. Sie dürfen uns nicht mehr verlassen. Sie gehören uns, wir lassen Sie nicht.«
»Diesmal für immer«, bestätigte Cosette. »Der Wagen wartet unten. Ich nehme dich gleich mit. Wenn es nötig ist, auch mit Gewalt. Dein Zimmer in unserem Haus erwartet dich. Wenn du nur wüßtest, wie hübsch der Garten jetzt ist. Die Azaleen gedeihen prächtig. Auch kannst du frische Erdbeeren aus meinem Garten essen. Ich begieße sie immer selbst. Und jetzt ist es aus mit Frau Baronin und Herr Jean, bei uns ist Republik, alle Welt duzt sich, nicht wahr, Marius? Wir sind alle fröhlich und glücklich. Großvater wird sich sehr freuen. Du sollst ein eigenes Beet im Garten bekommen, dann wollen wir sehen, ob deine
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