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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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»Hier ist es!« der Vorsehung zu sehen. Gewiß waren diese beiden Kinder glücklich. Fantine hatte sie mit Bewunderung und Zärtlichkeit betrachtet und konnte sich nicht enthalten, in einem Augenblick, da die Mutter zu einem neuen Vers ansetzte, zu sagen: »Zwei hübsche Kinderchen haben Sie, Frau!«
    Selbst die rohesten Kreaturen sind entwaffnet, wenn man ihre Kinder rühmt. Die Mutter hob den Kopf, dankte und lud die Fremde ein, auf der Bank Platz zu nehmen. Sie selbst blieb auf der Schwelle sitzen.
    »Ich bin Frau Thénardier«, sagte sie. »Wir betreiben hier diese Gastwirtschaft.«
    Dann summte sie wieder einen Vers ihrer Romanze:
    »Bin ein Ritter, muß wohl ziehn
    Fern nach Palästina hin …«
    Diese Frau Thénardier war eine rothaarige, fleischige, plumpe Person, ein rechtes Soldatenweib in ihrer mangelhaften Grazie. Seltsam, sie liebte es dabei, sich zu zieren – eine Neigung, die sie offenbar fleißiger Romanlektüre verdankte. Sie verschlang alte Bücher, und die bringen ja oft eine solche Wirkung zustande. Übrigens war sie noch jung, kaum dreißig Jahre. Wenn sie, die da gebückt saß, aufgestanden wäre, hätte ihre Riesengestalt, die sich auf einem Jahrmarkt hätte sehen lassen können, die Reisende gewiß in Angst versetzt und ihr Zutrauen vermindert: so daß, was wir eben zu erzählen im Begriffe sind, niemals zustande gekommen wäre. Ob ein Mensch sitzt oder aufrecht steht, an solche Dinge knüpft sich manchmal ein Schicksal.
    Die Reisende erzählte ihre Geschichte, nicht ohne einige Änderungen an ihr vorzunehmen. Sie sei Arbeiterin, ihr Mann gestorben. In Paris gäbe es keine Arbeit, und darum wolle sie es anderswo versuchen, zum Beispiel zu Hause; sie sei heute morgen zu Fuß von Paris weggegangen, aber da sie das Kind getragen habe, sei sie bald müde geworden und in den Wagen gestiegen, dem sie auf dem Wege nach Villemomble begegnet sei; von Villemomble sei sie zu Fuß nach Montfermeil herübergegangen. Die Kleine sei ein wenig gelaufen, aber nur eine kurze Strecke, und sie sei ja noch so jung, dann habe sie sie wieder auf den Arm nehmen müssen. Jetzt sei der Schatz eingeschlafen.
    Darüber küßte sie das Mädchen so leidenschaftlich, daß es erwachte. Das Kind schlug die Augen auf, große, blaue Augen, die denen der Mutter glichen, und sah um sich. Was es sah? Nichts, alles – und mit diesem ernsten, fast strengen Blick kleiner Kinder, der das Geheimnis ihrer strahlenden Unschuld unseren dämmernden Tugenden gegenüberstellt. Man möchte sagen, sie wüßten, daß sie Engel sind, wir aber Menschen.
    Endlich begann die Kleine zu lachen, und obwohl die Mutter sie zurückhielt, glitt sie zur Erde herab mit der unzähmbaren Energie eines jungen Wesens, das laufen will. Sie bemerkte die beiden Kleinen auf ihrer improvisierten Schaukel, blieb stehen und sperrte, untrügliches Zeichen der Bewunderung, den Mund auf.
    Mutter Thénardier band ihre Mädchen los, ließ sie von der Schaukel herabsteigen und sagte:
    »Spielt, ihr drei!«
    In diesem Alter werden Bekanntschaften rasch geschlossen;keine Minute war vergangen, da waren die kleinen Thénardiers bereits mit der neuen Freundin in dem sehr ernsthaften Bestreben vereint, Löcher in die Erde zu kratzen, wobei sie sich aufs beste zu amüsieren schienen.
    »Wie heißt die Kleine?« fragte inzwischen Frau Thénardier.
    »Cosette.«
    Cosette … das heißt, eigentlich hieß sie Euphrasie. Aber aus Euphrasie hatte die Mutter Cosette gemacht mit jenem anmutigen Instinkt der Mütter und des Volkes, der aus Josepha Pepita und aus Françoise Sillette macht. Das sind Ableitungen, die geeignet sind, die ganze Etymologie auf den Kopf zu stellen. Ich habe eine Großmutter gekannt, die es zuwege brachte, aus Theodor Gnon zu machen.
    »Wie alt ist sie?«
    »Bald drei Jahre.«
    »Wie meine Älteste.«
    Inzwischen hatten sich die drei kleinen Mädchen in der Haltung tiefer Besorgnis und doch zugleich beglückender Spannung zusammengedrängt; irgend etwas war passiert. Ein dicker Regenwurm kam aus der Erde gekrochen. Sie fürchteten sich und waren doch entzückt.
    »Ach diese Kinder!« rief Mutter Thénardier, »wie rasch die einander kennen! Wenn man sie so sieht, möchte man doch schwören, daß es drei Schwestern sind!«
    Dies Wort war der Funke, auf den die andere gewartet zu haben schien. Sie nahm die Hand der Frau Thénardier, sah ihr fest ins Auge und fragte:
    »Wollen Sie mein Kind bei sich behalten?«
    Frau Thénardier antwortete mit einer Gebärde des

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