Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Erstaunens, die weder Einwilligung noch Ablehnung bedeuten mußte.
Die Mutter Cosettes fuhr fort:
»Sehen Sie, ich kann die Kleine nicht mitnehmen. Die Arbeit erlaubt es nicht. Mit einem Kind findet man keine Beschäftigung. Bei uns zu Hause sind die Leute so komisch in dieser Beziehung. Der liebe Gott hat mich zu Ihrer Herberge geführt. Als ich Ihre hübschen, sauberen Kinderchen sah, denen es offensichtlich so gut geht, habe ich gleich dieses Gefühl gehabt und habe mir gedacht: Das muß eine gute Mutter sein. Wirklich, die drei könnten Schwestern sein. Und dann komme ich ja auch bald wieder. Wollen Sie mein Kind so lange behalten?«
»Man müßte sich’s überlegen«, meinte Frau Thénardier.
»Ich würde sechs Franken monatlich geben.«
Jetzt wurde aus der Wirtsstube eine Männerstimme hörbar.
»Nicht unter sieben Franken! Und sechs Monate vorausbezahlt!«
»Sechs mal sieben wären zweiundvierzig …«, meinte Frau Thénardier.
»Das werde ich geben«, sagte die Mutter.
»Und fünfzehn Franken Anzahlung für die ersten Anschaffungen«, ließ die Männerstimme sich vernehmen.
»Das wären zusammen siebenundfünfzig Franken«, fuhr Frau Thénardier fort. Mitten in ihre Berechnung hinein aber summte sie ihr:
»So muß es sein, sagt der Soldat …«
»Ich werde es bezahlen«, sagte die Mutter. »Ich habe achtzig Franken. Mir bleibt noch ein Rest, um nach Hause zu kommen … wenn ich zu Fuß gehe. Wenn ich zu Hause Geld verdient habe, komme ich wieder und besuche meinen Schatz.«
Die Männerstimme fragte von neuem:
»Ist denn die Kleine ausgestattet?«
»Es ist mein Mann«, sagte Frau Thénardier.
»Aber gewiß hat sie eine Ausstattung, der kleine Schatz. Ich hatte es mir gleich gedacht, daß es Ihr Mann wäre. Und eine schöne Ausstattung sogar, alles dutzendweise! Seidenkleider wie eine Dame. Alles habe ich hier in meinem Reisesack.«
»Sie müssen es hierlassen«, antwortete die Männerstimme.
»Gewiß lasse ich es ihr hier«, erwiderte die Mutter. »Das wäre doch zu toll, wenn ich mein Kind nackt ließe!«
Jetzt wurde der Hausherr sichtbar.
»Gut«, sagte er.
Man wurde handelseinig. Die Mutter verbrachte die Nacht in der Herberge, erlegte das Geld, ließ das Kind zurück und machte sich am nächsten Morgen mit ihrem schlaff gewordenen Reisesack wieder auf den Weg.
Eine Nachbarin der Thénardiers begegnete ihr, als sie aus dem Ort hinausging, und erzählte später: »Ich sah diese Frau weinen, daß es zum Steinerweichen war.«
Der Wirt aber sagte zu seiner Frau, als Cosettes Mutter gegangen war:
»Nun werde ich die hundertzehn Franken doch bezahlen können, die morgen fällig sind. Diese fünfzig fehlten mir gerade noch. Weißt du auch, daß der Wechsel gewiß protestiert worden wäre? Wir hätten das Gericht auf den Leib gekriegt. Die hast du gut geködert mit deinen Kleinen!«
»Und ich dachte mir nicht einmal was dabei.«
Erste Skizze zweier verdächtiger Gestalten
Wer waren diese Thénardiers?
Diese Leute gehörten zu jener Zwitterart von Menschen, die sich aus ungebildeten Emporkömmlingen und herabgekommenen Gebildeten zusammensetzt, gewissermaßen eine Mischung ist aus dem sogenannten Mittelstand und der Unterklasse, und die Fehler der letzteren mit den Lastern der ersteren verbindet – kurz, die zwar die großherzigen Regungen des Arbeiters nicht kennt, aber auch die Ordnungsliebe der Bürgerklasse eingebüßt hat.
Es waren verkrüppelte Seelen, die, wenn zufällig irgendein Antrieb sie verführte, leicht zu Verbrechern entarten konnten. Die Frau war eher roh, während der Mann einen richtigen Lumpen abgeben konnte.
Dieser Thénardier mußte dem Kenner der Physiognomik auf den ersten Blick mißfallen. Manche Menschen braucht man nur anzusehen, um ihnen zu mißtrauen. Solche Leute blicken beunruhigt auf ihre Vergangenheit zurück, drohend auf ihre Zukunft. Etwas Unbekanntes ist in ihnen. Man weiß nicht, was sie getan haben oder noch tun werden. Ein Schatten in ihrem Blick verrät sie. Man braucht sie oft nur ein Wort sagen zu hören, nur eine Gebärde von ihnen zu erhaschen, und man ahnt ein dunkles Geheimnis in ihrer Vergangenheit oder düstere Möglichkeiten ihrer Zukunft.
Thénardier war, wenn man ihm glauben will, Soldat gewesen, Sergeant, wie er behauptete; angeblich hatte er an dem Feldzuge von 1815 teilgenommen und sich dabei ausgezeichnet. Das Schild seiner Kneipe war eine Anspielung auf eine seiner Waffentaten. Er hatte es selbst gemalt, denn er konnte alles,
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