Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
hatte, und sie begann ihn mit einem ganz besonderen Haß zu verfolgen. Wenn sie an der Fabrik vorbeikam, zu einer Zeit, da die Arbeiter an der Tür standen, lachte und sang sie auffällig.
»Das wird kein gutes Ende nehmen«, sagte eine alte Arbeiterin einmal.
Sie nahm sich einen Liebhaber, den ersten besten, der ihr über den Weg lief, einen Mann, den sie nicht liebte, nur aus Wut. Es war ein elender Kerl, eine Art Bettelmusikant, ein Nichtstuer, der sie schlug und den sie verließ, wie sie ihn genommen hatte, mit Abscheu. Ihr Kind liebte sie immer noch. Der Husten wurde nicht besser, oft hatte sie Schweißausbrüche auf dem Rücken.
Eines Tages erhielt sie von den Thénardiers einen Brief, der folgendermaßen lautete: Cosette hat eine Krankheit, die jetzt hier umgeht. Die Leute nennen sie Frieselfieber. Sie muß teure Medikamente bekommen. Wir haben kein Geld, können nichts auslegen. Wenn Sie uns nicht binnen acht Tagen vierzig Franken schicken, ist die Kleine tot.
Sie begann wild zu lachen, dann sagte sie zu der Nachbarin:
»Die sind gut! Vierzig Franken! Zwei Napoléons! Wo soll ich die nur hernehmen! Blöd sind diese Bauersleute.«
Sie lief auf die Straße, tanzend und lachend. Jemand begegnete ihr und fragte: »Was haben Sie nur, daß Sie so lustig sind?«
»Mir haben Leute vom Land eine rechte Dummheit geschrieben. Vierzig Franken wollen sie von mir. Dumme Bauern das!«
Als sie über den Platz ging, sah sie eine Menschenmenge, die einen seltsamen Wagen umstand, auf dem ein rotgekleideter Mann eine Rede hielt. Es war ein Zahnarzt, der dem Publikum Gebisse, schmerzstillende Mittel und Elixiere anbot.
Fantine mischte sich unter die Leute und begann mit den andern über das Geschwätz des Kurpfuschers zu lachen, der die Sprache des gemeinen Pöbels mit der der Leute von Stand zu einem seltsamen Kauderwelsch verband. Der Zahnreißer sah das lachende Mädchen und rief plötzlich:
»Sie haben hübsche Zähne, Sie Kleine da unten! Wenn Sie mir Ihre beiden Schneidezähne geben, zahle ich Ihnen für jeden einen Napoléon.«
»Was sind Schneidezähne?« fragte Fantine.
»Die beiden vordersten oben«, erwiderte der Zahnarzt.
»Um Gottes willen!« rief Fantine.
»Zwei Napoléon«, murrte eine zahnlose Alte neben ihr, »die hat ein Glück!«
Fantine lief davon und hielt sich beide Ohren zu, um nicht die heisere Stimme des Mannes zu hören, der ihr nachrief:
»Überlegen Sie sich’s, meine Schöne, zwei Napoléons sind keinScherz! Wenn Sie doch noch Lust kriegen, kommen Sie zum ›Silbernen Kreuzer‹, dort finden Sie mich.«
Fantine kehrte nach Hause zurück. Zu Marguerite, die neben ihr arbeitete, sagte sie:
»Was ist das eigentlich, Frieselfieber?«
»Nun, eine Krankheit.«
»Braucht man da viel Medikamente?«
»Schrecklich viel Medikamente.«
»Und das kriegen auch Kinder?«
»Kinder besonders.«
»Kann man daran sterben?«
»Ganz leicht«, meinte Marguerite.
Am Abend ging sie in die Pariser Straße, in der die Herbergen sind.
Als Marguerite am nächsten Morgen vor Tagesanbruch – die beiden arbeiteten zusammen bei einer gemeinsamen Kerze – in Fantines Zimmer trat, fand sie das Mädchen blaß und kälteschauernd auf ihrem Bett sitzen. Die Haube war auf die Knie herabgefallen. Sie hatte nicht geschlafen. Die Kerze hatte die ganze Nacht gebrannt und war fast ganz verbraucht.
»Großer Gott«, rief Marguerite verblüfft, »die ganze Kerze ist verbrannt! Was ist denn los?«
Dann sah sie Fantine, die ihr den kurzgeschnittenen Kopf zuwandte. Sie war um zehn Jahre gealtert.
»Jesus!« rief Marguerite, »was haben Sie nur, Fantine?«
»Nichts«, sagte Fantine, »gar nichts. Mein Kind wird nicht an dieser schrecklichen Krankheit sterben.«
Und sie wies auf die beiden Napoléons, die auf dem Tisch lagen.
»Großer Gott!« sagte Marguerite, »ein Vermögen! Woher haben Sie das Geld?«
»Ich habe es bekommen.«
Sie lächelte. Das Kerzenlicht erhellte ihr Gesicht. Ein blutiges Lächeln. Rötlicher Speichel benetzte ihre Mundwinkel, und in ihrem Mund war ein schwarzes Loch. Zwei Zähne waren herausgerissen.
Vierzig Franken sandte sie nach Montfermeil. Thénardier hatte sich dieses Kniffs bedient, um Geld zu bekommen. Cosette war nicht krank.
Fantine warf ihren Spiegel aus dem Fenster. Sie hatte ihre Schamverloren, jetzt gab sie auch nichts mehr auf ihre äußere Erscheinung, vernachlässigte sich. Sie ging mit schmutzigem Häubchen aus. Aus Mangel an Zeit oder Gleichgültigkeit besserte sie
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