Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
rief Madeleine, »zwanzig Louis!«
Wieder schwiegen alle.
»An gutem Willen fehlt es nicht«, sagte eine Stimme.
Madeleine wandte sich um und erkannte Javert. Dieser fuhr fort:
»Es gehörte ein Riesenkerl dazu, einen solchen Wagen mit dem Rücken hochzuheben.«
Mit einem scharfen Blick auf Madeleine sagte er:
»Ich habe nur einen einzigen Menschen gekannt, Herr Madeleine, der zustande gebracht hätte, was Sie da verlangen. Es war ein Galeerensträfling.«
»Oh«, sagte Madeleine.
»Im Bagno, in Toulon.«
Madeleine erblaßte.
Inzwischen fuhr der Wagen fort, langsam zu sinken. Vater Fauchelevent keuchte und stöhnte.
»Ich ersticke! Das bricht mir alle Rippen entzwei!«
Wieder blickte Madeleine ringsum.
»Ist keiner da, der zwanzig Louis verdienen und dem armen Alten das Leben retten möchte?«
Wieder rührte sich niemand. Javert aber sagte:
»Ich kannte nur einen einzigen Menschen, der eine Winde ersetzten konnte – eben jenen Galeerensträfling!«
»Es erdrückt mich!« jammerte der Alte.
Madeleine blickte auf, begegnete dem Falkenauge Javerts, sah die Bauern unbeweglich stehen und lächelte traurig. Dann kniete er wortlos nieder, und bevor noch jemand einen Schrei ausstoßen konnte, war er unter dem Wagen.
Ein Augenblick bangen Schweigens folgte.
Man sah Madeleine, der fast flach auf dem Bauch lag und sich unter dem furchtbaren Gewicht zweimal vergeblich plagte, die Ellbogen den Knien zu nähern. »Vater Madeleine, lassen Sie ab davon!« wurde gerufen. Sogar der alte Fauchelevent warnte ihn. »Herr Madeleine«, sagte er, »tun Sie es nicht; wenn ich sterben muß, dann soll es geschehen, ich will nicht, daß Sie sich auch zerschmettern lassen.«
Madeleine antwortete nicht. Die Umstehenden keuchten. Die Räder waren schon so tief eingesunken, daß Madeleine kaum mehr unter dem Wagen hervorkonnte.
Plötzlich ging ein Zittern durch die gewaltige Masse der Ladung, langsam wurde der Wagen gehoben, und die Räder lösten sich halb vom Boden. Eine stöhnende Stimme rief: »Macht rasch!« Und alle stürzten herzu. Die Hingabe des einen hatte alle ermutigt. Zwanzig Arme hoben den Wagen. Der alte Fauchelevent war gerettet.
Madeleine stand auf. Er war blaß und schweißüberströmt. Seine Kleider waren zerfetzt und kotbedeckt. Alle waren zu Tränen gerührt. Der Greis umfing seine Knie und nannte ihn seinen lieben Gott. In Madeleines Antlitz war ein Ausdruck von himmlischem, beseligtem Weh, während er ruhig Javerts Blick erwiderte.
Fauchelevent wird Gärtner in Paris
Fauchelevent hatte sich bei seinem Sturz das eine Bein verrenkt. Vater Madeleine ließ ihn in das Spital bringen, das er in dem Fabrikgebäude für seine Arbeiter eingerichtet hatte und in dem zwei barmherzige Schwestern beschäftigt waren. Am nächsten Morgen fand der Alte einen Tausendfrankenschein auf seinem Nachtschrank und dabei einen Zettel, auf den Madeleine geschrieben hatte:
»Ich kaufe Ihren Wagen und Ihr Pferd.«
Der Wagen war zerbrochen, das Pferd tot. Fauchelevent wurde gesund, eins seiner Beine aber blieb gelähmt. Madeleine verschaffte ihm durch Vermittlung der barmherzigen Schwestern und des Pfarrers eine Anstellung als Gärtner im Nonnenkloster zu Saint-Antoine in Paris.
Kurze Zeit nachher wurde Madeleine Bürgermeister. Als Javert ihm zum erstenmal mit der Schärpe, die seine Würde kennzeichnete, auf der Straße begegnete, zuckte er zusammen wie eine Dogge, die einen Wolf in den Kleidern ihres Herrn wittert. Seither mied er es nach Möglichkeit, ihm zu begegnen. Wenn ihn seine dienstlichen Obliegenheiten zwangen, beim Bürgermeister vorzusprechen, so benahm er sich ehrfurchtsvoll.
So lagen die Verhältnisse, als Fantine in ihre Heimatstadt zurückkehrte. Niemand erkannte sie wieder. Das Tor der Madeleineschen Fabrik war ihr wie ein freundliches Antlitz. Sie meldete sich und wurde in die Werkstätte der Frauen aufgenommen. Die Arbeit war Fantine neu, sie ging ihr nicht leicht von der Hand, und darum verdiente sie nicht allzuviel, aber genug, um ihr Leben zu fristen.
Frau Victurnien gibt fünfunddreißig Franken für die Moral aus
Als Fantine sah, daß sie auskommen konnte, war sie glücklich. Die Lust zur Arbeit erwachte. Sie kaufte sich einen Spiegel, freute sich zu sehen, daß sie jung war, daß ihre blonden Haare und ihre weißen Zähne gefallen konnten, vergaß vieles, dachte nur mehr an ihre Cosette und an die Zukunft; es fehlte nicht viel, und sie war glücklich. Sie mietete ein kleines Zimmer und kaufte auf
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