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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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niemand wollte sie nehmen. Fortziehen hatte sienicht können. Der Möbelhändler, dem sie ihre Einrichtung – welch eine jämmerliche Einrichtung! – schuldete, hatte gesagt: »Wenn Sie fortgehen, lasse ich Sie als Diebin verhaften.« Der Hauswirt, dem sie noch Miete schuldete, hatte gesagt: »Sie sind jung und hübsch, Sie können zahlen.« So teilte sie die fünfzig Franken unter den Wirt und den Möbelhändler, gab Dreiviertel ihrer Einrichtung zurück, behielt nur das Allernötigste und fand sich ohne Arbeit, ohne Stellung und mit ungefähr hundert Franken Schulden wieder.
    Sie begann grobe Soldatenhemden zu nähen und verdiente damit zwölf Sous täglich. Ihre Tochter kostete sie zehn. Damals begann sie mit ihren Zahlungen an Thénardier in Verzug zu geraten. Doch lehrte eine alte Frau, die ihr abends die Kerze anzündete, sie die Kunst des Lebens im Elend. Denn wenn man auch mit wenig gelebt hat, so gibt es auch noch eine Steigerung – mit nichts auskommen.
    Fantine lernte, wie man einen Winter ohne Heizung durchhält, wie man einen Vogel los wird, der in seiner unergründlichen Freßgier alle zwei Tage für einen Heller Futter braucht, wie man einen Unterrock als Bettdecke und eine Bettdecke als Unterrock benützt, wie man an der Kerze spart, indem man seine Mahlzeit im Licht des hellerleuchteten Fensters von gegenüber einnimmt.
    Es wurde ein wahres Talent daraus. Fantine faßte sogar wieder ein wenig Mut.
    Anfänglich hatte Fantine kaum gewagt, auszugehen. Sobald sie die Straße betrat, fühlte sie, daß die Leute sich nach ihr umwandten und mit dem Finger auf sie zeigten. Alle Welt sah sie an, niemand grüßte. Diese rohe Mißachtung schnitt ihr ins Fleisch und fiel wie ein eisiger Wind in ihre Seele. In den Kleinstädten ist, scheint es, eine Unglückliche nackt und wehrlos gegen den Hohn und die Neugierde aller. In Paris bleibt man unbekannt, da ist die Dunkelheit wie ein schützendes Kleid. Wie sehr sehnte sie sich danach, wieder in Paris zu sein. Aber unmöglich …
    Also mußte sie sich an die Verachtung gewöhnen, wie sie sich an die Not gewöhnte. Allmählich richtete sie sich ein. Nach zwei oder drei Monaten schüttelte sie die Scham ab und ging aus, als ob nichts gewesen wäre. So sah Frau Victurnien sie bisweilen vom Fenster aus, aufrecht einherschreitend, mit einem bitteren Lächeln um die Lippen, überzeugte sich von dem Elend dieser Person, die sie »in ihre Schranken gewiesen hatte«, und war stolz.
    Das Übermaß der Arbeit erschöpfte Fantine; der leichte, trockeneHusten wurde schlimmer. Manchmal sagte sie zu ihrer Nachbarin Marguerite:
    »Fühlen Sie doch, wie meine Hände warm sind!«
    Wenn sie aber des Morgens mit einem alten, zerbrochenen Kamm ihre schönen Haare strählte, die wie Seide knisterten, empfand sie einen Augenblick beseligter Eitelkeit.
    Sie war gegen Ende des Winters entlassen worden; ein Sommer verging, und wieder ward es Winter. Kurze Tage, weniger Arbeit. Winter, Kälte, kein Licht, von Morgen bis Abend nur eine kurze Spanne Zeit, draußen Nebel, Dämmerung, zugefrorene Fenster …
    Und ihre Gläubiger quälten sie. Sie verdiente sehr wenig. Ihre Schulden wuchsen an. Die Thénardiers waren nicht die Leute, um Außenstände zu dulden; sie schrieben Briefe, die Fantine tief betrübten; allein das Porto erschöpfte ihre geringe Barschaft. Eines Tages schrieben sie ihr, die kleine Cosette sei trotz der Kälte fast nackt, sie brauche dringend eine Wolljacke, und dazu wären mindestens zehn Franken nötig. Fantine empfing diesen Brief und trug ihn einen ganzen Tag lang in der Hand. Am Abend endlich ging sie zu einem Barbier und zog ihren Kamm aus der Frisur. Die herrlichen, blonden Haare fielen ihr bis über die Hüften herab.
    »Was würden Sie dafür geben?« fragte sie.
    »Zehn Franken.«
    »Schneiden Sie sie ab.«
    Sie kaufte ein Wolljäckchen und sandte es den Thénardiers, die darüber in arge Wut gerieten, denn sie hatten es auf das Geld abgesehen. Das Jäckchen gaben sie Eponine, und die arme Lerche mußte weiter frieren.
    Fantine dachte: mein Kind friert nicht mehr. Ich habe es mit meinen Haaren bekleidet. Sie trug jetzt ein kleines Häubchen, das ihren geschorenen Kopf verhüllte und ihr recht gut stand.
    Inzwischen vollzog sich in Fantines Herz eine düstere Wandlung. Sie begann zu hassen. Lange Zeit hatte sie die Verehrung aller für Vater Madeleine geteilt. Jetzt aber bedachte sie, daß er es doch war, der sie fortgejagt hatte, daß er ihr Unglück verursacht

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