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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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Kredit Möbel: Rückfall in unordentliche alte Angewöhnungen.
    Da sie nicht sagen konnte, sie sei verheiratet, hatte sie sich wohl gehütet, von ihrem Töchterchen zu sprechen. Doch zahlte sie wenigstens zu Anfang pünktlich ihre Schuld an Thénardier. Da sie nicht schreiben konnte, mußte sie sich eines öffentlichen Schreibers bedienen. Sie schrieb oft, und das fiel auf. In den Werkstätten der Frauen wurde geflüstert, Fantine schreibe Briefe und sie wolle sich wohl groß aufspielen.
    Und unter ihren Freundinnen war nicht nur eine, die sie um ihre blonden Haare und ihre weißen Zähne beneidet hätte.
    Sie brachten heraus, daß sie mindestens zweimal monatlich immer an die gleiche Adresse schrieb. Es gelang ihnen, diese Adresse zu erfahren. Sie lautete: Herrn Thénardier, Wirt in Montfermeil.
    Man ermittelte auch den Schreiber, und da der alte Biedermann einer Flasche Rotwein nicht widerstehen konnte, erfuhr man, daß Fantine ein Kind hatte.
    »Also so eine war sie!«
    Es fand sich sogar eine Frau, die eine Reise nach Montfermeil nicht scheute und mit Thénardier sprach. Als sie zurückkam, sagte sie:
    »Es hat mich fünfunddreißig Franken gekostet, aber jetzt bin ich im Bilde. Ich habe das Kind gesehen.«
    Diese Frau war eine alte Hexe, eine gewisse Victurnien, die Tugendwächterin aller Welt. Sie zählte sechsundfünfzig Jahre, und die Maske des Alters trat zurück hinter der der Häßlichkeit. Sie meckerte, und ihr Verstand war schrullig. Auch sie war, kaum zu glauben, einmal jung gewesen. Damals, Anno 93, hatte sie einen entlaufenen Bernhardiner geheiratet, der die rote Mütze genommen und zu den Jakobinern übergegangen war. Sie war vertrocknet, boshaft, tückisch, ihr Mönch, dessen Witwe sie bereits war, hatte sie gehörig gezähmt und gemeistert. Unter der Restauration kehrte sie in den Schoß der Kirche zurück, und sie tat es so voll und ganz, daß die Priester ihr ihren Mönch verziehen. Ihre kleine Habe hatte sie, nicht ohne großes Aufheben davon zu machen, einer frommen Gemeinde gestiftet. Im Bischofspalais zu Arras war sie gern gesehen. Das war die Frau, die in Montfermeil gewesen war und sagen konnte: Ich habe das Kind gesehen.
    Alles das nahm Zeit in Anspruch. Fantine war seit mehr als einem Jahr in der Fabrik, als eines Morgens die Aufseherin der Frauenwerkstätte ihr von dem Herrn Bürgermeister fünfzig Frankenüberbrachte und bestellte, sie solle sich hier nicht mehr blicken lassen; und der Herr Bürgermeister lasse ihr sagen, sie solle am besten anderswohin ziehen.
    Das geschah genau damals, als Thénardier seine Forderung neuerlich erhöhte und fünfzehn Franken monatlich verlangte. Fantine war niedergeschmettert. Sie konnte Montreuil sur Mer nicht verlassen, denn sie war mit der Miete im Rückstand und hatte ihre Möbel noch nicht bezahlt. Fünfzig Franken reichten nicht aus, um diese Schulden abzugelten. Sie stammelte einige flehentliche Worte, aber die Aufseherin bedeutete ihr, sie habe sofort die Werkstätte zu verlassen. Fantine war ja auch nur eine mittelmäßige Arbeiterin. Von Schmach und Verzweiflung niedergedrückt, verließ sie die Fabrik und ging nach Hause. Offenbar wußten jetzt alle von ihrer Schande!
    Man empfahl ihr, sich an den Herrn Bürgermeister zu wenden, aber sie wagte es nicht. Er hatte ihr fünfzig Franken gegeben, weil er gut war, und er jagte sie aus dem Dienst, weil er gerecht war …
Erfolge der Frau Victurnien
    Die Witwe des Mönchs hatte ihre Sache also gut gemacht.
    Übrigens ahnte Madeleine nichts. So verknüpfen sich die Umstände. Es war nicht seine Gewohnheit, in die Frauenwerkstätte zu gehen. Er hatte die Leitung dieses Betriebes einem alten Fräulein anvertraut, das der Pfarrer ihm empfohlen hatte, und er hatte alles Vertrauen zu dieser wachsamen, wahrhaft ehrenwerten, gerechten Frau, die sogar zu geben verstand, aber das Mitleid nicht so weit trieb, zu verstehen und zu verzeihen. Ihr überließ Madeleine die Leitung der Werkstätte. Auch die besten Menschen sind zuweilen gezwungen, sich eines Teils ihrer Obliegenheiten zu entledigen. Aus eigener Machtvollkommenheit hatte die Aufseherin den Prozeß geführt, das Urteil gefällt und Fantine ihm unterworfen.
    Was die fünfzig Franken betraf, so hatte sie sie aus einer Kasse entnommen, die Herr Madeleine ihr zur Unterstützung bedürftiger Arbeiterinnen anvertraut hatte und über die sie nicht Rechenschaft abzulegen brauchte.
    Zunächst suchte Fantine in Dienst zu treten; sie ging von Haus zu Haus, aber

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