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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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die Tatsache, daß er schon auf den Galeeren gewesen war. Dadurch verschlimmerte sich seine Lage. Übrigens war das Verhör und die Vernehmung der Zeugen bereits vorüber; es standen nur noch die Plädoyers des Verteidigers und des Staatsanwalts aus; vor Mitternacht würde man nicht zum Schluß kommen. Ohne Zweifel würde der Angeklagte verurteilt, denn der Staatsanwalt war ein tüchtiger Mensch und bekam alle seine Opfer zu fassen; ein witziger Mensch, der sogar Verse schrieb! Ein Gerichtsdiener stand neben der Tür zum Gerichtssaal. Madeleine wandte sich an ihn.
    »Wird bald geöffnet?«
    »Es wird nicht mehr geöffnet.«
    »Wie, es wird nicht geöffnet, wenn die Verhandlung wieder beginnt?«
    »Sie hat schon begonnen, aber es wird nicht mehr geöffnet.«
    »Warum?«
    »Der Saal ist schon überfüllt.«
    »Kein einziger Platz mehr?«
    »Nein, es darf niemand mehr eintreten«, und, nach einer kleinen Pause: »Es sind vielleicht noch zwei oder drei Plätze hinter dem Herrn Vorsitzenden frei, aber die werden nur an Beamte vergeben.«
    Der Gerichtsdiener kehrte ihm den Rücken.
    Mit gesenktem Haupt entfernte sich Madeleine, durchschritt das Vorzimmer, stieg langsam die Treppe hinab. Offenbar überlegte er. Ein heftiger Kampf, der in ihm seit gestern abend tobte, war noch nicht ausgetragen; jeden Augenblick konnte er neu aufflammen. Als Madeleine am Treppenabsatz angelangt war, lehnte er sich an die Rampe und kreuzte die Arme. Plötzlich griff er in seine Rocktasche, zog ein Portefeuille heraus, nahm einen Bleistift, riß ein Blatt aus einem Notizbuch und schrieb darauf:
    »Madeleine, Bürgermeister von Montreuil sur Mer.«
    Dann eilte er die Treppe hinauf, drängte sich durch die Menge, trat auf den Gerichtsdiener zu und reichte ihm das Blatt.
    »Überbringen Sie dies dem Herrn Präsidenten.«
    Der Gerichtsdiener nahm das Blatt, warf einen Blick darauf und gehorchte.
Ein Ort, an dem man sich Überzeugungen bildet
    Einige Minuten später stand Madeleine in einem getäfelten, von zwei Kerzen auf einem grünüberzogenen Tisch erleuchteten Kabinett von strengem Aussehen. Er hatte noch die letzten Worte des Gerichtsdieners in den Ohren, der gesagt hatte:
    »Dies hier ist das Beratungszimmer. Sie brauchen nur dort die Tür mit der Kupferklinke zu öffnen und befinden sich im Verhandlungssaal, unmittelbar hinter dem Stuhl des Herrn Präsidenten.«
    Mit diesen Worten vermischte sich eine vage Erinnerung an schmale Korridore und dunkle Treppen, die er soeben durchquert hatte.
    Der Gerichtsdiener hatte ihn allein gelassen. Der entscheidende Augenblick war gekommen. Madeleine bemühte sich, seine Gedanken zu sammeln, konnte es aber nicht. Wenn es am nötigsten ist, reißen oft die Fäden, die im Gehirn die Gedanken verbinden. Er befand sich an dem Ort, wo die Richter beraten und ihr Urteil fällen. Mit stumpfer Ruhe sah er in diesem friedlichen und zugleich schrecklichen Zimmer um sich, in dem so viele Existenzen vernichtet worden waren und in dem auch bald sein Name ausgesprochen werden sollte. Er starrte die Wand an, warf einen Blick auf sich selbst und wunderte sich, daß er hier stand.
    Seit vierundzwanzig Stunden hatte er nichts gegessen, und er war zermürbt von der Fahrt in dem groben Gefährt; aber er fühlte nichts, empfand nichts.
    Er näherte sich einem schwarzen Rahmen, der an der Wand hing und unter Glas einen alten, handschriftlichen Brief des Herrn Jean Nicolas Pache, Bürgermeister von Paris und Minister, offenbar irrtümlich datiert vom 9. Juni des Jahres II, enthielt. In diesem Brief übersandte Pache der Kommune die Liste der Minister und Deputierten, die in Haft gehalten wurden. Ein Zeuge, der Madeleine in diesem Augenblick beobachtet hätte, wäre ohne Zweifel zur Ansicht gekommen, daß dieser Brief ihn sehr interessierte, denn er ließ ihn nicht aus dem Auge, sondern las ihn wohl zwei- oder dreimal. Und doch begriff er nichts von seinem Inhalt.
    In Gedanken versunken, wandte er sich um, und sein Blick fiel auf die Kupferklinke der Tür zum Verhandlungssaal. Er hatte sie fast vergessen. Sein Blick blieb an der Klinke hängen und wurdestarr; Bestürzung spiegelte sich in seinen Mienen. Schweiß perlte von seiner Stirn und rieselte über seine Schläfen herab.
    Mit einer entschlossenen Gebärde wandte er sich ab; es war, als ob er sagen wollte: Großer Gott, muß ich denn? Er sah vor sich die Tür, durch die er eingetreten war, ging mit festen Schritten auf sie zu, öffnete sie und trat hinaus. Schon war er im

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