Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Korridor, einem langen, schmalen Korridor mit Stufen und Schaltern. Er atmete auf und lauschte. Nichts war zu hören. Da begann er zu laufen, als ob man ihn verfolge.
Er bog um mehrere Ecken, endlich blieb er wieder stehen und taumelte, so daß er sich an die Wand lehnen mußte. Der Stein war kalt, eisig lag der Schweiß auf seiner Stirn. Er schauderte.
So verging geraume Zeit. Endlich senkte er den Kopf, seufzte qualvoll auf, ließ die Arme herabfallen und ging langsam zurück. Es war, als ob jemand ihn eingeholt hätte und zurückführe.
Wieder gelangte er in das Beratungszimmer. Sein Blick fiel auf die Klinke. Sie glitzerte wie ein furchtbarer Stern. Er sah sie an, wie das Schaf in das Auge des Tigers blickt.
Er konnte den Blick nicht davon abwenden.
Schritt für Schritt näherte er sich der Tür.
Wenn er gehorcht hätte, wäre wohl ein undeutliches Gemurmel aus dem Nebenraum an sein Ohr gedrungen; aber er horchte nicht.
Fast ohne es selbst zu bemerken, stand er plötzlich vor der Tür und griff krampfhaft nach der Klinke. Er öffnete und befand sich im Verhandlungssaal.
Mechanisch schloß er die Tür hinter sich, blieb stehen und hielt Umschau.
Er befand sich in einem geräumigen, schlechterleuchteten Saal, in dem es bald lärmend zuging, bald wieder still war; hier wickelte sich ein Kriminalprozeß mit seiner ganzen albernen und düsteren Gewichtigkeit vor den Augen der Menge ab.
Auf der einen Seite des Saales, auf der auch er sich befand, sah er Richter mit zerstreuten Mienen in abgetragenen Talaren, die an ihren Nägeln kauten und mit den Augenlidern klappten; auf der anderen Seite eine Menge in Lumpen; Advokaten in allen möglichen Haltungen; Justizsoldaten mit biederen, harten Gesichtern; alte, schmutzige Täfelung, ein unsauberer Plafond, Tische, die mit vergilbtem, ehemals grünem Serge überzogen waren, Türen mit schwarzen Fingerabdrücken. An Nägeln hängende Lampen, diemehr Qualm als Licht verbreiteten; auf den Tischen Kerzen in Kupferleuchtern. Finsternis, Häßlichkeit, Traurigkeit.
Niemand achtete seiner. Alle Blicke waren auf einen Punkt gerichtet, eine Holzbank, die an eine kleine Tür gelehnt war, linker Hand vom Platz des Präsidenten. Auf dieser Bank saß ein Mann zwischen zwei Gendarmen.
Dieser Mann war er.
Madeleine suchte ihn nicht, er sah ihn sofort. Wie von selbst richteten sich seine Blicke auf ihn, als ob er im voraus gewußt hätte, wo er war.
Er glaubte sich selbst zu sehen, gealtert, nicht ganz mit demselben Gesicht, aber doch ähnlich in der Haltung, mit struppigen Haaren, mit diesem wilden, unsteten Blick, in dieser selben groben Joppe – er, wie er seinerzeit nach Digne gekommen war, Haß im Herzen, sorgfältig diesen furchtbaren Schatz häßlicher Gedanken in seiner Seele verbergend, die er in neunzehn Jahren der Kerkerhaft gesammelt hatte.
Dieser Mensch schien mindestens sechzig Jahre alt zu sein. Es war etwas Rohes, Blödes, Verschrecktes in seinem Wesen.
Als die Türe ging, war man zur Seite getreten, um Madeleine Platz zu machen; der Präsident hatte den Kopf gewandt, hatte erraten, daß der Eintretende der Bürgermeister von Montreuil sur Mer sein mußte, und hatte gegrüßt. Der Staatsanwalt, der Madeleine in Montreuil sur Mer kennengelernt hatte, wohin ihn ministerielle Aufträge geführt hatten, erkannte ihn und grüßte gleichfalls. Madeleine bemerkte es kaum.
Richter, Schreiber, Gendarmen, eine Menge grausam neugieriger Zuschauer, das hatte er alles schon einmal gesehen, damals, vor siebenundzwanzig Jahren. Jetzt fand er diese grausigen Dinge wieder; sie erneuerten sich, sie existierten noch immer. Nicht sein überreiztes Gedächtnis hatte ihm das vorgespiegelt, dies waren wirkliche Gendarmen und wirkliche Richter, eine wirkliche Menge – Menschen von Fleisch und Blut. Jetzt erwachte die Vergangenheit rings um ihn, Gespenster tauchten wieder auf, die grausigen Erinnerungen seiner Vergangenheit erstanden zu neuer, furchtbarer Wirklichkeit.
Dies alles war ein gähnender Abgrund vor ihm. Er schloß die Augen, etwas in einer Seele sagte ihm: Nie wieder! Niemals!
Und durch eine tragische Fügung des Schicksals, das ihn zumWahnsinn treiben wollte, war er selbst es, der da vor ihm stand, war er es – und dieser Mann, über den man zu Gericht saß, wurde von allen Jean Valjean genannt.
Alles war wieder auferstanden, dieselbe Mitternachtsstunde, fast dieselben Gesichter der Richter, der Justizsoldaten und Zuschauer. Nur hing jetzt über dem Kopf des
Weitere Kostenlose Bücher