Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
sich, als ob er fürchte, ein Fremder könne seine Frage hören.
»Wollen Sie mir bitte sagen, mein Herr, wo das Gerichtsgebäude ist?«
»Sie sind wohl nicht aus unserer Stadt?« antwortete der Bürger, ein älterer Mann. »Folgen Sie mir. Ich gehe gerade dahin. ZurPräfektur. Das Gerichtsgebäude wird gerade ausgebessert, darum finden vorläufig die Verhandlungen in der Präfektur statt.«
»Sind auch die Assisen dort untergebracht?«
»Gewiß, mein Herr. Die Präfektur war vor der Revolution das bischöfliche Palais. Herr de Conzié, der Anno 82 Bischof war, hat darin den großen Festsaal erbauen lassen, in dem jetzt die Schwurgerichtsverhandlungen stattfinden.« Unterwegs sagte der Bürger:
»Wenn Sie einem Prozeß beiwohnen wollen, ist es wohl ziemlich spät. Gewöhnlich wird die Sitzung um sechs Uhr aufgehoben.«
Sie kamen auf einen großen Platz, und der Bürger zeigte Madeleine vier hohe, erleuchtete Fenster in der Fassade eines düsteren Gebäudes.
»Weiß Gott, mein Herr, Sie kommen noch zurecht. Da haben Sie aber Glück. Sehen Sie die vier Fenster? Hier tagen die Geschworenen. Es ist noch Licht, also ist die Verhandlung noch nicht zu Ende. Sind Sie an der Sache interessiert? Ist es ein Kriminalprozeß? Sind Sie etwa Zeuge?«
»Ich habe damit nichts zu tun«, antwortete Madeleine, »ich möchte nur mit einem Rechtsanwalt sprechen.«
»Das ist etwas anderes. Sehen Sie, mein Herr, dort die Tür: wo der Posten steht. Sie brauchen nur die große Treppe hinaufzugehen.«
Madeleine folgte dieser Weisung und befand sich einige Minuten später in einem großen Saal, in dem eine Menge von Leuten – darunter viele Advokaten – flüsternd in Gruppen beisammenstanden. Es ist immer ein bedrückender Anblick, diese schwarzgekleideten Leute in den Gerichtssälen murmelnd beisammenstehen zu sehen. Nur selten ist Erbarmen das Ergebnis dieser Gespräche. Nur zu oft ist die Verurteilung schon im voraus beschlossene Sache.
Dieser Raum, der nur von einer Lampe erhellt wurde, war ein altes Vorzimmer. Eine Flügeltür, die augenblicklich verschlossen war, trennte es von dem Saal, in dem die Assisen tagten.
In dieser Dunkelheit scheute sich Madeleine nicht, den erstbesten Anwalt, dem er begegnete, anzusprechen.
»Wie steht die Sache?«
»Schon zu Ende.«
»Zu Ende!«
Er hatte so gesprochen, daß der Advokat sich umwandte.
»Verzeihung, sind Sie etwa ein Verwandter?«
»Nein, ich kenne niemand hier. Wurde der Angeklagte verurteilt?«
»Selbstverständlich, das war nicht anders möglich.«
»Zwangsarbeit?«
»Lebenslänglich.«
So leise, daß der andere ihn kaum verstand, fuhr er fort:
»Ist die Identität festgestellt worden?«
»Welche Identität? Es war gar nicht von irgendeiner Identität die Rede. Es war ein ganz einfacher Fall: die Frau hatte das Kind getötet, der Kindsmord war bewiesen, aber die Geschworenen haben die Frage der Vorsätzlichkeit verneint, daher mußte auf ›lebenslänglich‹ erkannt werden.«
»Also eine Frau?«
»Natürlich. Die unverehelichte Limosin. Wovon sprachen Sie?«
»Von nichts Bestimmtem. Aber warum ist der Saal noch beleuchtet, wenn alles aus ist?«
»Das ist ein anderer Prozeß, der vor etwa zwei Stunden begonnen hat. Ein Fall, der ebenso klar liegt. Es handelt sich um irgendeinen Kerl, einen rückfälligen Verbrecher, der schon auf den Galeeren war und etwas gestohlen hat. Ich weiß nicht einmal seinen Namen. Dem Kerl sieht man übrigens den Banditen an der Nase an. Für sein Gesicht allein schon würde ich ihn auf die Galeeren schicken.«
»Meinen Sie, mein Herr, daß man noch in den Saal kommen kann?«
»Das halte ich für ausgeschlossen. Es sind schon sehr viel Leute drin. Aber vielleicht sind nach dem Verhör einige weggegangen, und Sie können, wenn die Sitzung wieder eröffnet wird, hineinkommen.«
»Wo ist die Tür?«
»Die große da …«
Der Anwalt entfernte sich. In wenigen Augenblicken hatte Madeleine alle möglichen Empfindungen fast gleichzeitig durchkostet. Die Worte dieses Unbeteiligten hatten sein Herz wie eisige Nadeln und glühende Klingen durchbohrt.
Er trat zu einer der Gruppen und horchte. Da der Gerichtshof eine große Anzahl von Prozessen zu bewältigen hatte, hatte der Präsident für heute zwei einfache und kurze angesetzt. Mit der Kindsmörderin war begonnen worden, und jetzt sollte der rückfälligeSträfling an die Reihe kommen. Der Mann hatte Äpfel gestohlen, und nicht einmal das war hinreichend erwiesen; was aber feststand, war
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