Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
»Ich lebe nur, wenn der Herr Bürgermeister da ist.«
An diesem Tage hatte sie schweres Fieber. Als sie Madeleine erkannte, fragte sie:
»Und Cosette?«
»Bald«, antwortete er lächelnd.
Er behandelte sie auch diesmal wie gewöhnlich, nur blieb er zu Fantines großer Freude eine ganze Stunde. Es wurde auch bemerkt, daß er einmal plötzlich sehr düster wurde. Man erklärte es sich aber daraus, daß der Arzt ihm leise gesagt hatte: »Es kann nicht mehr lange dauern.«
Schwester Simplice wird auf die Probe gestellt
Fantine verbrachte eine schlechte Nacht. Der Husten war schrecklich, das Fieber nahm an Stärke zu. Sie phantasierte. Als der Arzt am Morgen kam, lag sie im Delirium. Er zeigte sich beunruhigt undordnete an, daß er gerufen werden sollte, sobald Herr Madeleine käme.
Den ganzen Vormittag war sie stumpf, sprach wenig, und ihre Augen waren starr. Nur von Zeit zu Zeit leuchteten sie auf, wie von einem himmlischen Licht durchflutet. Wenn Schwester Simplice sie nach ihrem Befinden befragte, sagte sie:
»Danke, es geht mir gut, aber ich möchte Herrn Madeleine sehen.«
Gegen zwölf kam der Arzt, stellte einige Rezepte aus, erkundigte sich, ob der Herr Bürgermeister im Krankenhaus gewesen sei, und ging kopfschüttelnd weg.
Gewöhnlich erschien Herr Madeleine gegen drei Uhr bei der Kranken. Da Pünktlichkeit ein Teil der Güte ist, war er auch pünktlich. Schon gegen halb drei begann Fantine unruhig zu werden. In einem Zeitraum von zwanzig Minuten fragte sie die Nonne wohl zehnmal:
»Wie spät mag es sein, Schwester?«
Es schlug drei. Beim dritten Schlag setzte sich Fantine auf, obwohl sie sich sonst kaum im Bett bewegen konnte, faltete krampfhaft ihre fleischlosen, gelben Hände, und die Nonne hörte sie tief aufseufzen. Dann wandte sie sich zur Seite und richtete den Blick auf die Tür.
So verging eine halbe, eine ganze Stunde. Es wurde fünf. Die Schwester hörte, wie sie leise sagte: »Morgen muß ich fort, er hätte heute kommen können.« Auch Simplice war über Madeleines Verspätung verwundert. Sie sandte eine Magd in die Fabrik, um sich zu erkundigen, ob der Herr Bürgermeister schon zu Hause sei und ob er heute nicht ins Spital käme. Bald war die Magd zurück. Fantine lag noch immer reglos und schien ihren Gedanken nachzuhängen. Leise erzählte die Magd Schwester Simplice, der Herr Bürgermeister sei am selben Morgen in einem kleinen Tilbury allein, ja sogar ohne Kutscher fortgefahren, ohne daß man wüßte, wohin er sich gewandt habe. Leute wollten ihn auf der Straße nach Arras gesehen haben, während andere versicherten, sie seien ihm auf der Pariser Straße begegnet.
Während die beiden Frauen miteinander flüsterten, hatte sich Fantine, in der das Fieber wieder aufflackerte, im Bette aufgesetzt und lauschte, mit geballten Fäusten auf das Kissen gestützt. Plötzlich rief sie:
»Sie sprechen von Herrn Madeleine. Warum sprechen Sie so leise? Was ist mit ihm? Warum kommt er nicht?«
Ihre Stimme war so rauh, daß die beiden Frauen eine Männerstimme zu hören glaubten und sich erschrocken umwandten.
»Antworten Sie doch!« rief Fantine.
Stammelnd sagte die Magd: »Die Frau des Hauswarts hat mir gesagt, er könne heute nicht kommen.«
»Bleiben Sie ruhig, mein Kind«, sagte die Schwester, »legen Sie sich wieder zurück.«
Ohne ihre Haltung zu verändern, rief Fantine wieder mit ihrer rauhen Stimme und in einem befehlenden Ton:
»Warum kann er nicht kommen? Sie wissen den Grund. Sie haben eben darüber flüsternd miteinander gesprochen. Ich will es wissen.«
Hastig flüsterte die Magd der Nonne zu: »Sagen Sie ihr doch, er sei in der Stadtverordnetenversammlung.«
Schwester Simplice errötete leise; man mutete ihr zu, sie sollte lügen. Andererseits begriff sie, daß die Wahrheit ein furchtbarer Schlag für die Kranke sein müßte und bei Fantines elendem Zustand böse Folgen haben konnte. Nicht lange verweilte die Röte auf ihren Wangen. Traurig und ruhig sagte sie:
»Der Herr Bürgermeister ist verreist.«
Fantines Augen funkelten. Eine unerhörte Freude verklärte ihr vergrämtes Gesicht.
»Verreist! Er holt Cosette.«
Und sie hob die Hände zum Himmel, ihr Gesicht nahm einen verklärten Ausdruck an, ihre Lippen bewegten sich; leise betete sie.
»Schwester«, sagte sie, nachdem sie gebetet hatte, »ich will mich wieder zurücklehnen, ich will alles tun, was man von mir verlangt. Ich bin eben recht schlecht gewesen. Verzeihen Sie mir, daß ich so laut gesprochen habe, es
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