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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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Präsidenten ein Kruzifix, das war damals, als er verurteilt worden war, nicht so gewesen. Damals hatte man in Abwesenheit Gottes Recht gesprochen.
    Ein Stuhl stand hinter ihm, er sank darauf, von dem Gedanken gepeinigt, man könne ihn sehen. Er verbarg sich hinter einem Stapel von Kartons, die auf dem Richtertisch lagen. Jetzt konnte er sehen, ohne gesehen zu werden. Allmählich gewann er Fassung. Er erlangte wieder das Gefühl für die Wirklichkeit. Er war ruhig genug, um zuhören zu können.
    Herr Bamatabois befand sich unter den Geschworenen.
    Jetzt suchte Madeleine Javert, aber er sah ihn nicht, vielleicht, weil die Zeugenbank durch den Tisch des Schreibers verdeckt war. Auch war der Saal, wie wir schon sagten, spärlich beleuchtet. Als Madeleine eintrat, hatte der Anwalt sein Plädoyer gerade beendet. Jetzt schickte sich der Staatsanwalt an, zu antworten. Es war eine ebenso energische wie gezierte Rede, die er hielt, die übliche Rede eines Staatsanwalts.
    Zunächst beglückwünschte er den Verteidiger zu der Aufrichtigkeit, mit der er gesprochen, und machte sich die Zugeständnisse, die er aus der Rede des Advokaten herausgehört, zunutze. Was der Advokat des Beschuldigten einbekannt hatte, galt ihm als Geständnis des Angeklagten selbst. Dieser Anwalt schien einräumen zu wollen, daß der Angeklagte Jean Valjean sei. Das stellte der Staatsanwalt fest. Dieser Mensch war also Jean Valjean. In diesem Punkte war die Anklage durchgedrungen, und man brauchte nicht weiter darüber zu sprechen. Jetzt ging er in einer geschickten Abschweifung auf die seelischen Ursachen und Quellen der Kriminalität zurück, schleuderte den Donner der Verdammnis gegen die romantische Schule der Literatur, die damals noch jung war und von den Kritikern der »Oriflamme« und der »Quotidienne« als satanistische Schule verdammt wurde, wies – nicht ohne alle Wahrscheinlichkeit – auf den Einfluß hin, den diese perverse Literatur auf Champmathieu ausgeübt haben mußte, oder vielmehr auf Jean Valjean. Nachdem er alles verbraucht hatte, was sich hierüber sagenläßt, kehrte er wieder zu Jean Valjean zurück. Wer war dieser Jean Valjean? Ausführliche Beschreibung des Mannes. Ein Ungeheuer, ausgespien … usw. usw. Den Urtext aller Beschreibungen dieser Art findet man in dem Monolog des Theramenes, der zwar auf der Bühne nicht viel taugt, aber der judiziellen Beredsamkeit große Dienste geleistet hat und noch täglich leistet. Sobald diese Beschreibung beendigt war, rief der Staatsanwalt in einer oratorischen Wendung, die ganz danach angetan war, in der nächsten Nummer des »Journal de la Préfecture« rühmend erwähnt zu werden: Und ein solcher Mensch usw. usw., Vagabund, Bettler, ohne Existenzmittel, usw. usw., durch sein Vorleben allein schon befähigt zu allen Schandtaten und durch einen Aufenthalt im Bagno kaum gebessert, usw. usw., ein solcher Mensch, in flagranti bei einem Diebstahl ertappt, nur wenige Schritte entfernt von der Mauer, die er überstiegen, den gestohlenen Gegenstand noch in Händen, ein solcher Mensch leugnet sein Vergehen, den Diebstahl, den Einbruch, leugnet alles, sogar seinen Namen, ja sogar seine Identität.
    »Von hundert anderen Beweisen ganz zu schweigen«, fuhr er fort, »auf die wir hier nicht zurückkommen wollen, wird er von vier Zeugen wiedererkannt, von Javert, dem untadeligen Polizeiinspektor Javert, und von drei ehemaligen Genossen seiner Schande, den Sträflingen Brevet, Chenildieu, Cochepaille. Was wagt er dieser niederschmetternden Einstimmigkeit entgegenzustellen? Er leugnet! Welche Verstocktheit! Sie werden Gerechtigkeit üben, meine Herren Geschworenen, usw. usw. …«
    Während der Staatsanwalt sprach, horchte der Angeklagte mit offenem Munde, mit einem Staunen, das an Bewunderung streifte. Er war offenbar überrascht, daß man so schön sprechen konnte. Manchmal, an besonders energischen Stellen der Rede, wenn die überströmende Beredsamkeit wie ein Orkan über den Angeklagten hereinbrach und Epitheta durch die Luft wirbelte, schüttelte er leise den Kopf zum Zeichen seiner traurigen, stummen Beschwerde. Zwei- oder dreimal hörten die Zuschauer, die ihm am nächsten saßen, wie er leise sagte: »Das kommt davon, daß man Herrn Baloup nicht gefragt hat.« Der Staatsanwalt machte die Geschworenen auf dieses alberne, offenbar berechnete Gebaren aufmerksam, das beileibe nicht Dummheit, sondern Geschicklichkeit, Schlauheit, Gewandtheit und Betrug beweise, und wies darauf hin, daß solches

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