Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
später öffnete sich die Tür des Zeugenzimmers. Der Gerichtsdiener, von einem Gendarmen begleitet, führte den Sträfling Brevet herein. Der alte Galeerensträfling trug die schwarzgraue Jacke der Zentralgefängnisse. Er mochte etwa sechzig Jahre zählenund sah halb wie ein Kaufmann, halb wie ein Schuft aus. Es besteht ja zuweilen eine Ähnlichkeit … Nun, in dem Gefängnis, in das neue Verfehlungen ihn gebracht hatten, war er fast so etwas wie ein Schließer geworden. Jedenfalls war er ein Mann, von dem die Vorgesetzten sagen: er sucht sich nützlich zu machen. Die Gefängnisgeistlichen bestätigten, daß er religiös war. Man darf nicht vergessen, daß diese Vorfälle in der Zeit der Restauration spielen.
»Brevet«, sagte der Präsident, »Sie haben eine entehrende Strafe abzubüßen und dürfen daher keinen Eid ablegen.«
Brevet blickte zu Boden.
»Immerhin«, fuhr der Präsident fort, »kann auch in einem Menschen, den das Gesetz entehrt hat, mit Gottes Einwilligung ein Gefühl für Recht und Ehre wach bleiben. An dieses Gefühl appelliere ich in dieser entscheidenden Stunde. Wenn es, wie ich hoffe, in Ihnen noch lebt, dann überlegen Sie, bevor Sie antworten, und ziehen Sie in Betracht, daß dieses Wort einerseits den Mann dort verderben, andererseits aber die Justiz aufklären kann. Der Augenblick ist feierlich, noch immer haben Sie Zeit, sich zurückzuziehen, wenn Sie einen Irrtum auch nur für möglich halten. – Angeklagter, stehen Sie auf! Brevet, sehen Sie den Angeklagten an, sammeln Sie Ihr Gedächtnis und sagen Sie bei Ihrem Gewissen und dem Heil Ihrer Seele, ob Sie bei Ihrer Aussage verharren und diesen Mann als Ihren alten Kameraden ans dem Bagno, Jean Valjean, erkennen.«
Brevet sah den Angeklagten an, dann wandte er sich dem Gerichtshof zu.
»Ja, Herr Präsident, ich habe ihn gleich erkannt, und es ist jetzt auch nicht anders; dieser Mann ist Jean Valjean. Er kam 1796 nach Toulon und wurde 1815 entlassen. Ich wurde im nächsten Jahre freigelassen. Er sieht jetzt blöd aus, aber das ist eine Folge des Alters; im Bagno war er ein recht gewitzter Kerl. Ich erkenne ihn ganz bestimmt.«
»Setzen Sie sich«, sagte der Präsident, »Angeklagter, bleiben Sie stehen.«
»Jetzt wurde Chenildieu hereingeführt, ein »Lebenslänglicher«, wie die rote Jacke und die grüne Mütze erkennen ließen. Er verbüßte seine Strafe in Toulon, von wo er hierhergeholt worden war. Er war klein, etwa fünfzig Jahre alt, lebhaft, frech, hatte fiebrige Augen und viele Falten in seinem gelben Gesicht. Bei seinen Gefährten im Bagno hieß er Ohnegott.
Der Präsident richtete etwa dieselben Worte an ihn wie an Brevet. Als er ihn daran erinnerte, daß sein Ehrverlust ihn des Rechtes beraube, den Zeugeneid zu schwören, hob Chenildieu den Kopf und ließ seinen Blick über die Menge hinschweifen. Der Präsident forderte ihn auf, sich zu sammeln, und fragte ihn, ob er den Angeklagten kenne.
Chenildieu lachte laut.
»Ob ich den kenne! Fünf Jahre lang sind wir an derselben Kette gehangen! Du nimmst es mir doch nicht übel, Alter?«
»Setzen Sie sich«, sagte der Präsident.
Jetzt führte der Gerichtsdiener Cochepaille herein. Auch er war ein »Lebenslänglicher« und trug dieselbe Tracht wie Chenildieu. Er war ein Bauer aus Lourdes und plump wie ein Pyrenäenbär. Oben in den Bergen war er Hirte gewesen und später Räuber geworden. Cochepaille war nicht weniger wild als sein Vorgänger, aber um so dümmer. Er gehörte zu jenen Unglücklichen, die von der Natur als wilde Tiere geschaffen und von der Gesellschaft als Galeerensträflinge gehalten werden.
Der Präsident versuchte auch ihn mit pathetischen und ernsten Worten zu beeindrucken und fragte endlich, ob auch er den Angeklagten erkenne.
»Das ist Valjean«, sagte Cochepaille.
Jede der drei Aussagen – sie waren offenbar aufrichtig und guten Glaubens abgegeben – hatte in der Zuhörerschaft ein Gemurmel zur Folge, das dem Angeklagten nichts Gutes weissagte; von Mal zu Mal war dieses Gemurmel stärker geworden und hatte länger gedauert. Der Angeklagte hörte mit erstauntem Gesicht zu. Nach der ersten Aussage hatten die Gendarmen ihn murmeln gehört: »Na, das wäre einer.« Nach der zweiten, etwas lauter und fast befriedigt: »Gut.« Nach der dritten hatte er gerufen: »Ausgezeichnet!«
Der Präsident fragte ihn:
»Angeklagter, Sie haben gehört. Was haben Sie dazu zu sagen?«
»Ich sage – ausgezeichnet!«
Eine Unruhe ging durch das Publikum. Auch die
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