Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
noch atme. Madeleine nahm den Spiegel, sah seine Haare an und sagte:
»Wahrhaftig …«
Aber er sagte es so gleichgültig, als ob er an etwas anderes dächte.
»Kann ich sie sehen?« fragte er dann.
»Wollten Sie lieber nicht erst das Kind holen lassen, Herr Bürgermeister?« fragte die Schwester.
»Doch, aber das wird zwei bis drei Tage dauern.«
»Wenn sie nicht erfährt, daß Sie zurückgekommen sind, wird sie Geduld haben; und wenn das Kind dann kommt, denkt sie natürlich, daß Herr Bürgermeister eben mit dem Kind zurückgekommen sind. Man brauchte also nicht zu lügen.«
Madeleine dachte einen Augenblick nach, dann sagte er mit ruhigem Ernst:
»Nein, Schwester, ich muß sie sehen. Vielleicht eilt es sehr.«
Die Nonne schien dieses Wort wohl nicht zu beachten, das der ganzen Erklärung des Bürgermeisters einen seltsam dunklen Sinn gab. Sie sagte:
»Sie schläft. Sie können eintreten, Herr Bürgermeister.«
Er trat in Fantines Zimmer und schlug den Vorhang ihres Bettes zurück. Einen Augenblick stand er reglos vor dem Bett und betrachtete abwechselnd die Kranke und das Kruzifix. Es war wie damals, vor zwei Monaten, als er sie das erstemal im Spital besucht hatte: sie schlief, er betete. Nur war ihr Haar grau, seines weiß geworden.
Plötzlich schlug Fantine die Augen auf und fragte mit einem friedlichen Lächeln:
»Und Cosette?«
Das war nicht überraschend, nicht eine Regung der Freude: es war die Freude selbst. Diese einfache Frage »und Cosette?« war mit so tiefer Überzeugung, so sicher im Glauben vorgetragen, daß er keine Antwort fand.
»Ich wußte doch, daß Sie hier waren«, fuhr sie fort.
»Ich habe geschlafen, aber ich habe Sie doch gesehen. Schon lange sehe ich Sie. Während der ganzen Nacht bin ich Ihnen mitmeinen Augen gefolgt. Aber sagen Sie mir doch, wo ist Cosette? Warum haben Sie sie mir nicht aufs Bett gelegt, damit ich sie gleich sehe, wenn ich aufwache?«
Glücklicherweise trat in diesem Augenblick der Arzt ein. Er kam Herrn Madeleine zu Hilfe.
»Mein Kind«, sagte der Arzt, »beruhigen Sie sich. Ihre Kleine ist da.«
Fantines Augen leuchteten auf, und ein klares Licht verbreitete sich über ihr ganzes Gesicht. Sie faltete die Hände mit einem Ausdruck, der alles in sich schloß, was ein Gebet an sanfter Ergebung und dringendem Verlangen auszudrücken vermag.
»Oh«, rief sie, »bringen Sie sie mir!«
Rührende Illusion einer Mutter. Cosette war für sie noch immer das kleine Kind, das man bringt.
»Noch nicht«, sagte der Arzt, »nicht in diesem Augenblick. Sie haben noch immer Fieber. Der Anblick des Kindes würde Sie erregen und Ihnen schaden. Sie müssen zuerst gesund werden.«
»Aber ich bin doch gesund!« rief sie heftig, »ist das doch ein Esel, dieser Arzt! Ich will mein Kind sehen!«
»Sie sehen«, sagte der Arzt, »wie sie sich bereits aufregt. Solange Sie sich in diesem Zustand befinden, werde ich nicht erlauben, daß man Ihnen das Kind bringt. Es handelt sich nicht darum, daß Sie das Kind sehen – Sie sollen für das Kind leben. Sobald Sie vernünftig sind, werde ich es selbst hierher bringen.«
Sie ließ den Kopf hängen.
»Verzeihen Sie, Herr Doktor, wirklich, ich bitte Sie um Verzeihung. Früher hätte ich nicht so gesprochen, wie ich es jetzt getan habe, aber mir ist so viel Unglück zugestoßen, daß ich manchmal gar nicht mehr weiß, was ich rede. Ich begreife, daß Sie die Aufregung fürchten, und ich werde warten, solange Sie es wünschen.«
Madeleine hatte sich auf einem Stuhl neben dem Bett niedergelassen. Sie wandte sich nach ihm um; offenbar kostete es sie große Mühe, ruhig und gefaßt zu erscheinen. Wenn man sie so friedlich sähe, dachte sie, würde man ihr ohne Schwierigkeit Cosette zuführen. Doch konnte sie sich nicht enthalten, tausend Fragen an Madeleine zu richten.
»Haben Sie denn eine gute Reise gehabt, Herr Bürgermeister? O wie gütig sind Sie, daß Sie sie selbst geholt haben. Sagen Sie mir nur, wie sie aussieht. Hat sie die Reise gut ausgehalten? Ach,sie wird mich ja gar nicht erkennen. Während all der langen Zeit hat sie mich bestimmt vergessen. Diese Kinder haben ja kein Gedächtnis. Wie gern möchte ich sie sehen. Herr Bürgermeister, finden Sie sie schön? Ist sie nicht hübsch, meine Kleine? Gewiß haben Sie sehr in der Post gefroren! Könnte man sie nicht auf einen kleinen Augenblick herbringen? Doch, man könnte sie ja gleich wieder forttragen. Sie sind doch hier der Herr, wenn Sie nur wollen …«
Er nahm ihre
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