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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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Sträflinge.
    »Ich erkenne Sie, Brevet, erinnern Sie sich …?« Zögernd fuhr erfort: »Erinnerst du dich an die Hosenträger aus Trikot mit dem Damenbrettmuster, die du im Bagno hattest?«
    Brevet war verblüfft und sah ihn von Kopf bis zu den Füßen erschrocken an. Er aber fuhr fort: »Chenildieu, Ohnegott, du hast auf der rechten Schulter eine Brandwunde, weil du dich einmal selbst in die Kohlenpfanne gelegt hast, um die drei Buchstaben T. F. P. auszubrennen. Sag, ist das wahr?«
    »Allerdings«, erwiderte Chenildieu.
    »Und du, Cochepaille, du hast gleich neben der Schlagader am linken Arm in blauen Buchstaben das Datum der Landung Napoléons in Cannes, den 1. März 1815, eingebrannt. Schieb deinen Ärmel zurück!«
    Cochepaille schob den Ärmel zurück, und alle Blicke richteten sich auf den nackten Arm. Ein Gendarm näherte eine Lampe, das Datum wurde sichtbar.
    Jetzt wandte sich der Unselige mit einem Lächeln, das allen ins Herz schnitt, an die Richter. Es war ein Lächeln des Triumphes und der Verzweiflung zugleich:
    »Sie sehen wohl, ich bin Jean Valjean.«
    Und jetzt waren in diesem Saal weder Richter noch Ankläger, noch Gendarmen: nur erstaunte Augen und bewegte Herzen. Keiner gedachte der Rolle, die er hier zu spielen hatte. Der Staatsanwalt hatte vergessen, daß es seine Pflicht war, Sühne zu heischen, der Präsident, den Vorsitz zu führen, der Verteidiger, zu verteidigen. Seltsam, niemand fragte, keine Behörde griff ein. Alle waren wie betäubt.
    Niemand konnte mehr bezweifeln, daß man Jean Valjean vor sich hatte. Plötzlich war Licht in diese ganze Angelegenheit gekommen, die eben noch im tiefsten Dunkel gelegen hatte.
    »Ich will die Verhandlung nicht weiter stören«, sagte Jean Valjean, »da niemand mich verhaftet, gehe ich. Ich habe noch Angelegenheiten zu erledigen. Der Herr Staatsanwalt weiß, wer ich bin und wo er mich findet; er wird mich verhaften lassen, wenn es ihm beliebt.«
    Er ging auf die Türe zu. Niemand erhob seine Stimme, kein Arm streckte sich aus, ihn aufzuhalten. Alle wichen zurück. Langsam schritt er durch die Menge. Es wurde nie festgestellt, wer ihm die Türe geöffnet hat, aber Tatsache ist, daß die Türe offen war, als er zu ihr kam.
    Er wandte sich noch einmal um und sagte:
    »Sie alle hier, Sie finden wohl, daß ich Mitleid verdiene, nicht wahr? Mein Gott, wenn ich mir vorstelle, was ich fast getan hätte, so erscheint mir mein jetziges Leben beneidenswert.«
    Er ging hinaus, und die Türe wurde geschlossen, wie sie geöffnet worden war; keine Stunde verging, da war Champmathieu von jeglicher Anklage freigesprochen; er wurde unverzüglich in Freiheit gesetzt. Tief erstaunt machte er sich davon, überzeugt, alle Menschen wären verrückt.

Achtes Buch
Der Gegenstoß
Fantine glücklich
    Der Morgen dämmerte. Fantine hatte eine schlaflose Fiebernacht verbracht, umgaukelt von beseligenden Bildern; gegen Morgen schlief sie ein. Schwester Simplice, die bei ihr gewacht hatte, machte sich diese Gelegenheit zunutze, um ihr einen neuen Chinarindenaufguß zu bereiten. Die gute Schwester befand sich seit Augenblicken im Laboratorium des Spitals, über ihre Phiolen und Fläschchen gebeugt, weil sie im schwachen Licht der Morgendämmerung die Gegenstände nur schwer zu unterscheiden vermochte. Plötzlich wandte sie sich um und stieß einen leisen Schrei aus. Madeleine stand vor ihr. Er war still eingetreten.
    »Sie sind es, Herr Bürgermeister!«
    Leise fragte er:
    »Wie geht es der armen Frau?«
    »Nicht schlecht im Augenblick. Aber wir waren nicht wenig besorgt.«
    Sie erzählte ihm, was vorgefallen war. Die Schwester wagte nicht zu fragen, ob er in Montfermeil gewesen sei, aber sie sah wohl, daß er nicht von dort kam.
    »Gut«, sagte er, »Sie taten recht, die Arme nicht zu enttäuschen.«
    »Ja, aber jetzt, Herr Bürgermeister, wenn sie Sie sieht, aber nicht das Kind, was sollen wir ihr dann sagen?«
    Er blieb einen Augenblick nachdenklich.
    »Gott wird uns das Rechte in den Mund legen.«
    »Aber wir können doch nicht lügen«, murmelte die Schwester leise.
    Es wurde heller im Zimmer. Das Tageslicht fiel auf Madeleines Gesicht. Zufällig blickte die Schwester gerade auf.
    »Mein Gott«, rief sie, »was ist Ihnen geschehen? Ihre Haare sind ganz weiß!«
    »Weiß?«
    Schwester Simplice besaß keinen Spiegel. Sie suchte im Gerätekasten des Arztes und fand darin einen kleinen Spiegel, dessen sich der Arzt bediente, um am Hauch festzustellen, ob ein Kranker tot sei oder

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