Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Menge scheu zurückwich. Man wußte nicht, was erstaunlicher war, seine Blässe oder der heitere Frieden, den sein Antlitz ausstrahlte.
Gerade das Erhabene wird selten verstanden; viele Leute hielten das Betragen des Bischofs für Affektation. Das war die Meinung der Salons. Das Volk allerdings, das fromme Handlungen nicht mißdeutet, war gerührt und bewunderte den Bischof.
Ihn hatte der Anblick der Guillotine aufs tiefste erschüttert, und lange konnte er sich davon nicht erholen.
In der Tat hat das Schafott, wenn es hoch aufgerichtet vor uns steht, eine unheimliche, die Phantasie erregende Wirkung. Man mag über die Todesstrafe keine eigene Meinung haben, sich des Urteils enthalten, sie bejahen oder verneinen, solange man die Guillotine nicht mit eigenen Augen gesehen hat; ist man ihr aber gegenübergestanden, so muß man sich entscheiden und Partei nehmen.Der eine wird sie bewundern wie de Maistre, der andere sie verabscheuen wie Beccaria. Die Guillotine ist das verwirklichte Gesetz, die materialisierte Rache; sie ist nicht neutral und gestattet uns nicht, neutral zu bleiben. Bei ihrem Anblick können wir uns nicht dem geheimnisvollen Schauer entziehen. Rings um das Fallbeil haben die sozialen Probleme ihre Fragezeichen wirksam vor unser Auge gerückt. Das Schafott ist eine Vision. Es ist nicht ein Gerüst, eine Maschine, ein toter Mechanismus aus Holz, Eisen und Seil. Es ist ein Lebewesen, scheint es, ein Lebewesen, das irgendeinem dunklen Trieb folgt. Es ist, als ob es sähe, höre, begreife, als ob diesem Eisen, diesem Holz, diesen Seilen ein Wille innewohne. Unserer beängstigten Phantasie erscheint es als furchtbarstes Wesen, das wissentlich handelt. Denn es ist der Komplize des Henkers, es frißt Fleisch und säuft Blut. Es ist ein Ungeheuer, das der Richter und der Zimmermann heraufbeschworen haben und das mit dem Tode, den es gibt, sein scheußliches Leben bestreitet.
So war der Eindruck tief und schrecklich gewesen; am Tage nach der Hinrichtung und noch viele Tage später war der Bischof bedrückt. Die fast erzwungene Heiterkeit, die ihn in dem schrecklichen Augenblick beherrscht hatte, war wieder verschwunden; das Schreckgespenst der Justiz lastete auf ihm. Er, der sonst mit so strahlender Zufriedenheit auf alle seine Handlungen zu blicken pflegte, schien sich Vorwürfe zu machen. Zuweilen sprach er mit sich selbst, murmelte düster vor sich hin. Seine Schwester hörte ihn eines Abends sagen:
»Ich dachte nicht, daß es so gräßlich wäre. Es ist ein Unrecht, nur an das göttliche Gesetz zu denken und das Menschengesetz zu vernachlässigen. Den Tod festzusetzen, ist Gottes Sache. Nur ihm kommt es zu. Mit welchem Recht maßen die Menschen sich an, eine Strafe zu verhängen, die sie selbst nicht kennen?«
Cravatte
Hier fügt sich eine Begebenheit ein, die wir nicht unerwähnt lassen dürfen, denn sie gehört zu jenen, die den Charakter des Bischofs von Digne am deutlichsten erkennen lassen.
Nachdem die Bande des Gaspard Bès auseinandergetrieben worden war, der die Täler um Ollioules unsicher gemacht hatte, floheiner seiner Unterführer, ein gewisser Cravatte, ins Gebirge. Er verbarg sich mit einigen versprengten Banditen geraume Zeit in der Grafschaft Nizza, entkam nach Piemont und tauchte plötzlich wieder in Frankreich, bei Barcelonnette, auf. Zuerst sah man ihn in Jauziers, dann in Tuiles. Er verbarg sich in den Höhlen des Joug de l’Aigle, stieg von dort durch die Schluchten der Ubaye und Ubayette zu den Hügeln und Dörfern herab. Schließlich kam er nach Embrun, drang des Nachts in die Kathedrale ein und plünderte die Sakristei. Seine Raubzüge versetzten das ganze Land in Schrecken. Die Gendarmen waren ihm auf den Fersen, aber vergeblich. Immer wieder entkam er; zuweilen leistete er sogar bewaffneten Widerstand. Er war tollkühn und elend.
Inmitten dieser Schrecken traf der Bischof ein. Er befand sich gerade auf einer Amtsreise nach Chastelar. Der Bürgermeister besuchte ihn und empfahl ihm, umzukehren. Cravatte hielt das Bergland bis zur Arche und darüber hinaus in Atem; selbst mit einer Eskorte zu reisen sei gefahrvoll. Es bedeute, nutzlos drei oder vier Gendarmen in Gefahr zu bringen.
»Allerdings«, sagte der Bischof, »ich wünsche auch ohne Eskorte zu reisen.«
»Aber was fällt Ihnen ein!« rief der Bürgermeister.
»Doch, ich lehne es ab, mit Gendarmen zu reisen, und ich breche in einer Stunde auf.«
»Sie brechen auf?«
»Allerdings.«
»Und
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