Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
gebeten, sein Leben riskieren und den Marsgast retten zu dürfen. Auf einen bejahenden Wink des Offiziers hatte er mit einem Hammerschlag die Kette, die sein Fußgelenk umschloß, zerschmettert, einen Strick ergriffen und war bis zu den Rahen emporgeklettert. Niemand beachtete in diesem Augenblick die Leichtigkeit, mit der er die Kette zerschlagen hatte. Erst später erinnerte man sich dieses Umstandes.
Im nächsten Augenblick, wie gesagt, war er auf den Rahen. Er hielt einen Augenblick inne und maß mit den Augen den Abstand. Diese Sekunden – der Wind schaukelte inzwischen den Marsgast am Ende des Taues – schienen den Zuschauern am Quai wie Jahrhunderte. Endlich blickte der Sträfling zum Himmel auf und tat einen Schritt vor. Die Menge atmete auf. Er lief die Rahen lang. An der Spitze angekommen, bückte er sich, band das eine Ende des mitgebrachten Seiles fest und ließ das andere in die Tiefe fallen. Im nächsten Moment kletterte er an diesem Seil hinab, zum unaussprechlichen Entsetzen der Zuschauer, die jetzt zwei Menschen über dem Abgrund hängen sahen.
Man mußte ihn, wenn man ihn so herabklettern sah, für eine Spinne halten, die eine Fliege fängt – nur brachte diese Spinne das Leben, nicht den Tod. Zehntausend Blicke waren auf die beiden gerichtet. Kein Schrei, kein Wort, nicht einmal ein Wimpernzucken … alle hielten den Atem an, als ob sie fürchten müßten, der geringste Hauch könne die beiden Gefährdeten vernichten.
Endlich hatte der Sträfling den Matrosen erreicht. Es war auch die höchste Zeit; eine Minute später hätte der Mann sich, erschöpft und verzweifelt, in den Abgrund fallen lassen. Der Sträfling band ihn an dem Seil fest, an dem er sich selbst mit der einen Hand hielt, während er mit der anderen arbeitete. Schließlich sah man ihn wieder zu den Rahen emporklettern und den Matrosen nachziehen. Erließ ihn dort einen Augenblick aufatmen, um Kräfte zu sammeln, nahm ihn dann in die Arme und trug ihn bis nach dem Mars, wo er ihn den Händen seiner Kameraden übergab.
Die Menge brach in stürmischen Beifall aus. Alte Kerkermeister hatten Tränen in den Augen, Frauen sanken einander in die Arme, alle verlangten in höchster Erregung, der Held solle begnadigt werden.
Dieser hatte sich angeschickt, wieder hinabzusteigen, um sich sofort wieder an die Kette legen zu lassen. Vielleicht um rascher zu sein, ließ er sich an dem Mast hinab, bis er zur nächsten Rahe kam und lief an dieser entlang. Alle Augen folgten ihm. Es gab einen Augenblick der Besorgnis. Sei es, daß er übermüdet war, sei es, daß ihm schwindelte, man glaubte ihn zögern und fallen zu sehen. Plötzlich gellte ein einziger Schrei aus der Menge auf: der Sträfling fiel ins Meer.
Der Sturz war gefährlich. Die Fregatte »Algeciras« war neben dem »Orion« vor Anker gegangen; der unglückliche Galeerensträfling war also zwischen diese beiden Schiffe gefallen. Man mußte befürchten, daß er, auftauchend, unter eines der beiden geraten würde. Eilig sprangen vier Mann in ein Boot. Die Menge feuerte sie an, wieder peitschte die Angst alle Geister. Aber der Mann tauchte nicht an der Oberfläche auf. Er war im Meere versunken, ohne eine Spur zu hinterlassen, als ob er in eine Tonne Öl gefallen wäre. Man suchte nach ihm, vergeblich. Bis Abend wurden die Bemühungen fortgesetzt, aber auch seine Leiche konnte nicht geborgen werden.
Am nächsten Tag widmete das »Journal de Toulon« diesem Vorfall einige Zeilen:
17. November 1823.
Gestern fiel ein Sträfling, der an Bord des »Orion« Dienst tat, nachdem er einem Matrosen Hilfe gebracht hatte, ins Meer und ertrank. Die Leiche konnte nicht geborgen werden. Man nimmt an, daß sie an den Pfeilern des Arsenals hängengeblieben ist. Dieser Mann war im Register unter Nr. 9 430 eingetragen und hieß Jean Valjean.
Zweites Buch
Einlösung eines Versprechens, das der Toten gegeben wurde
Wassermangel in Montfermeil
Montfermeil liegt zwischen Livry und Chelles, am Südrand des Plateaus zwischen Ourq und Marne. Heutzutage ist es ein recht stattlicher und hübscher Platz, in dem es nicht an schönen Villen und Sonntags an Ausflüglern fehlt. 1823 aber gab es dort weder weiße Häuser noch vergnügte Bürgersleute; damals war Montfermeil ein Dorf, das im Walde verloren lag. Wohl gab es einige Landhäuser aus dem 18. Jahrhundert, erkennbar an ihrem vornehmen Aussehen, ihren Gußeisenbalkons und hohen Fenstern, aber darum war der Ort doch nur ein Dörfchen. Noch hatten ihn die
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