Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
reichen Tuchhändler, die sich zur Ruhe setzen, nicht entdeckt. Ruhig und gefällig lag er da, ohne Verkehr, ein Platz, an dem es sich billig, einsam und gemächlich leben läßt. Nur fehlte es wegen des hochgelegenen Plateaus an Wasser.
Es mußte von ziemlich weit herbeigeschafft werden. Das Ende des Dorfes, das gegen Gagny hin liegt, bezieht sein Wasser aus den prächtigen Teichen, die im Walde liegen; das andere, rings um die Kirche und gegen Chelles hin, mußte sich das Trinkwasser aus einer kleinen Quelle beschaffen, die, etwa eine Viertelstunde von Montfermeil entfernt, an der Cheller Straße lag.
Daher kam es, daß die Wasserversorgung oft recht schwierige Aufgaben stellte. Die vornehmen Haushalte, die Aristokratie von Montfermeil, zahlten einen Liard für den Scheffel Wasser und ließen es von einem Mann heranschaffen, der sich nur dieser Aufgabe widmete und mit der Wasserversorgung von Montfermeil etwa acht Sous täglich verdiente. Aber der gute Mann arbeitete im Sommer nur bis sieben Uhr abends, im Winter gar nur bis fünf, so daß, wer bei Einbruch der Nacht kein Wasser im Hause hatte, entweder selbst welches holen oder sich den Durst verkneifen mußte.
Das war der Schrecken dieses armen Geschöpfs, das unsere Leser gewiß nicht vergessen haben, der kleinen Cosette. Man erinnert sich, daß Cosette den Thénardiers doppelt nützlich war,denn einerseits mußte ihre Mutter Kostgeld bezahlen, andererseits leistete das Kind Dienste. Als nun die Mutter mit ihren Zahlungen in Verzug geriet, behielten, wie in den vorigen Kapiteln auseinandergesetzt worden ist, die Thénardiers Cosette. Sie ersetzte ihnen eine Magd. Darum auch hatte sie, wenn es an Wasser fehlte, welches zu besorgen. Und da das Kind sich nicht wenig davor fürchtete, des Nachts zu jener Quelle zu gehen, achtete es um so aufmerksamer darauf, daß das Wasser schon des Tages im Hause nicht ausging.
Weihnachten des Jahres 1823 waren für Montfermeil besonders glänzend. Der Winter hatte mild eingesetzt. Noch hatte es nicht geschneit. Pariser Akrobaten hatten von dem Bürgermeister die Erlaubnis erhalten, in der Hauptstraße des Dorfes Buden aufzustellen, und eine Menge wandernder Händler hatte von der gleichen Erlaubnis Gebrauch gemacht und auf dem Kirchplatz, ja bis zur Bäckergasse hinab, wo die Thénardiers ihre Wirtschaft betrieben, Hökerbuden aufgestellt. So kam Leben in die Gastwirtschaften und Budiken, und das liebe Dörfchen sah fröhliche und erregte Tage.
Am Weihnachtsabend saßen mehrere Männer, Fuhrleute und Hausierer, an dem mit vier oder fünf Kerzen bestellten Tische des Gastzimmers. Es war ein Speiseraum, wie ihn alle Budiken dieser Art aufweisen. Tische, Zinnkrüge, Flaschen, Trinker und Raucher; wenig Licht, viel Lärm. Die Thénardier überwachte das Abendbrot, das noch an einem hellen Feuer schmorte. Herr Thénardier trank mit seinen Gästen und bestritt die Kosten des politischen Gesprächs.
Cosette befand sich an ihrem gewöhnlichen Aufenthaltsort, sie hockte unter dem Küchentisch neben dem Kamin. Ihre Kleider waren zerlumpt, an den nackten Füßen hatte sie Holzpantinen. Im Schein des Kaminfeuers strickte sie an Wollstrümpfen, die für die kleinen Töchter der Thénardiers bestimmt waren. Aus einem Nebenzimmer hörte man das Lachen und Scherzen zweier Kinderstimmen. Das waren Eponine und Azelma.
Im Kaminwinkel hing auf einem Nagel eine Karbatsche.
Zuweilen übertönte der Schrei eines kleinen Kindes, das in einem anderen Raum des Hauses untergebracht sein mochte, den Lärm in der Gaststube. Das war der kleine Knabe, den die Thénardier in einem der vorigen Winter bekommen hatte, »ohne zu wissenwarum, offenbar als Wirkung der Kälte«, wie sie sagte. Er war jetzt etwa drei Jahre alt. Die Mutter hatte ihn genährt, aber sie konnte ihn nicht leiden. Wenn das Geschrei unerträglich wurde, sagte Thénardier wohl zu ihr:
»Dein Junge jault schon wieder. Sieh doch nach, was er will.«
»Ach laß doch«, antwortete die Mutter, »er langweilt mich.«
Und der vernachlässigte Kleine jammerte in der Dunkelheit weiter.
Vervollständigung zweier Porträts
Wir haben bisher die Thénardiers gewissermaßen nur im Profil gezeigt. Jetzt ist es an der Zeit, sich wieder mit diesem würdigen Paar zu beschäftigen und es von allen Seiten zu betrachten.
Thénardier hatte die Fünfzig überschritten. Frau Thénardier mochte bald Vierzig erreichen. Aber da Frauen mit vierzig ebenso weit sind wie Männer mit fünfzig, konnte man sagen,
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