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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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hatte. Den ganzen Tag über war dieses Wunder die Augenweide aller zehnjährigen Mädchen von Montfermeil gewesen, ohne daß sich auch nur eine einzige Mutter gefunden hätte, die so reich oder so verschwenderisch war, ihrem Kinde ein solches Geschenk zu machen. Eponine und Azelma hatten Stunden damit verbracht, sie anzuschauen, und auch Cosette hatte ihr einen, wir müssen es der Wahrheit halber feststellen, flüchtigen Blick zugeworfen.
    Als Cosette nun aus dem Hause trat, bedrückt und niedergeschlagen, wie sie war, konnte sie es sich doch nicht verkneifen, dieser herrlichen Puppe, der »Dame«, wie sie sie nannte, einen Blickzu gönnen. Wie versteinert blieb das arme Kind stehen. Aus der Nähe hatte sie dieses Wunderwerk noch nicht gesehen. Für sie war die Hökerbude ein Palais, die Puppe eine Vision. Sie war Pracht, Reichtum, Glück, sie erschien diesem armen, von düsterem Elend niedergedrückten Kind wie ein schimärisch strahlendes Wesen. Cosette maß mit dem naiven und zugleich traurigen Eifer der Kindheit die Kluft, die sie von dieser Puppe trennte. Sie begriff, daß man Königin oder mindestens Prinzessin sein müßte, um so etwas besitzen zu dürfen. Sie betrachtete das schöne rosa Kleidchen, das herrliche Haar und dachte: wie glücklich muß diese Puppe sein!
    Sie konnte die Augen nicht von der Zauberbude abwenden. Je mehr sie hinsah, um so rätselhafter war der Bann. Sie glaubte einen Blick in das Paradies zu tun. Hinter der großen waren noch andere Puppen, die Feen und Genien glichen. Der Krämer, der hinten in der Bude auf und ab ging, schien ihr etwa wie der himmlische Vater.
    In ihrer Verzückung vergaß sie alles, sogar den Auftrag, den sie erhalten hatte. Plötzlich aber rief die rauhe Stimme der Thénardier sie zur Wirklichkeit:
    »Bist du noch nicht fort, Faulpelz! Na, warte nur! Was hast du dort zu suchen? Vorwärts, Balg!«
    Die Thénardier hatte einen Blick auf die Straße hinausgeworfen und hatte die verzückte Cosette gesehen. Nun rannte die Kleine mit ihrem Zuber, so rasch sie konnte, in die Nacht hinaus.
Die Kleine allein
    Da die Gastwirtschaft der Thénardiers in jenem Teil des Dorfes lag, der um die Kirche gruppiert ist, mußte Cosette das Wasser aus der Quelle am Wege nach Chelles holen.
    Sie sah sich keine von den Buden mehr an. Solange sie in der Bäckergasse und in der Nähe der erleuchteten Buden war, deren Lampions ihr Licht auf den Weg warfen, ging es gut; bald aber wurde es rings um sie dunkel. Ihr wurde bang zumute, sie begann den Zuber heftig an seinem Henkel zu schwenken. So entstand ein Geräusch, das ihr Gesellschaft leistete.
    Je weiter sie ging, um so undurchdringlicher wurde die Finsternis. Jetzt war kein Mensch mehr auf den Straßen. Solange zu beidenSeiten noch Häuser oder wenigstens Gartenmauern waren, blieb sie ziemlich tapfer. Hier und da sah sie durch verschlossene Fensterläden den Schimmer einer brennenden Kerze. Das war Leben, Licht und flößte ihr Mut ein. Je weiter sie aber in die Finsternis vordrang, um so langsamer wurde ihr Schritt. Und als sie das letzte Haus erreicht hatte, blieb Cosette stehen.
    Es war ihr schon schwer genug gefallen, an der letzten erleuchteten Bude vorbeizukommen. Nun auch das letzte Haus hinter sich zu lassen, war schier unmöglich. Sie stellte den Zuber auf den Boden, vergrub ihre Finger in den Haaren und begann langsam sich am Kopf zu kratzen, eine Geste, die bei Kindern Unentschiedenheit bedeutet. Was sie da vor sich sah, war nicht mehr Montfermeil, das waren die Felder, eine schwarze, öde Wüstenei. Verzweifelt spähte sie in die Dunkelheit hinaus, in der es keine Menschen mehr gab, wohl aber Tiere, vielleicht auch Gespenster. Sie konnte die Tiere im Grase hören, in den Baumwipfeln sah sie deutlich die Gespenster. Da nahm sie ihren Zuber auf, die Furcht flößte ihr Mut ein.
    »Ach was«, sagte sie, »ich werde sagen, daß kein Wasser mehr da war.«
    Kurz entschlossen kehrte sie nach Montfermeil zurück.
    Aber sie war keine hundert Schritte gegangen, da blieb sie schon stehen und begann wieder sich am Kopf zu kratzen. Jetzt sah sie die Thénardier, dieses scheußliche Weib mit dem Hyänenmaul und den wutflammenden Augen. Kläglich blickte sie um sich. Was tun? Wohin gehen? Vor ihr das Gespenst der Thénardier, hinter ihr die bösen Geister der Nacht und des Waldes. Sie entschied sich gegen die Thénardier. Wieder nahm sie die Richtung zur Quelle und begann zu laufen. Laufend verließ sie das Dorf, laufend durchquerte sie

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