Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
den Wald, sah und hörte nichts. Als ihr der Atem ausging, blieb sie nicht stehen, sondern ging wenigstens im Schritt weiter.
Sie hatte große Lust zu weinen.
Das nächtliche Weben des Forstes hüllte sie ein. Sie wagte keinen Gedanken zu fassen, wagte nicht, um sich zu blicken.
Vom Waldrand bis zur Quelle hatte sie sieben oder acht Minuten zu gehen. Cosette kannte den Weg gut genug, mußte sie ihn doch täglich mehrmals zurücklegen. Sie verirrte sich nicht. Ein Instinkt führte sie. Obwohl sie nicht aufblickte, aus Furcht, in den Zweigen oder im Gestrüpp etwas zu sehen, ging sie den richtigen Weg. Sie erreichte die Quelle.
Es war ein etwa zwei Fuß tiefes, natürliches Becken, ringsum moosbewachsen. Murmelnd schoß das Wasser hervor.
Cosette nahm sich nicht einmal die Zeit, aufzuatmen. Es war stockfinster. Aber sie kannte sich ja hier aus. Mit der Linken tastete sie nach einer jungen, über das Wasser geneigten Eiche, die ihr gewöhnlich als Stützpunkt diente, griff einen Ast, hing sich daran, beugte sich vor und tauchte den Zuber ins Wasser. Die Erregung verdreifachte ihre Kräfte. Während sie so über das Wasser gebeugt war, bemerkte sie nicht, daß der Inhalt ihrer Schürzentasche hineinfiel. Das Fünfzehnsousstück war verloren. Cosette bemerkte es nicht. Sie zog den fast gefüllten Eimer hoch und stellte ihn ins Gras.
Jetzt bemerkte sie, daß sie erschöpft war. Gern wäre sie sofort zurückgelaufen, aber die Mühe, den Zuber hochzuziehen, hatte ihr alle Kraft genommen. Sie mußte sich einen Augenblick niedersetzen. Gebückt hockte sie im Grase.
Sie schloß die Augen und schlug sie wieder auf, ohne zu wissen warum; sie konnte nicht anders. Das Wasser neben ihr, von der Bewegung aufgescheucht, zog Kreise, die Schlangen glichen. Der Himmel über ihr war mit schwarzen Wolken überzogen, die Rauchsäulen ähnlich waren. Die Dunkelheit schien sich über sie zu beugen, nach ihr zu greifen.
Jupiter ging gerade unter. Das Kind sah mit erschreckten Augen diesen großen Stern, den sie nicht kannte und der ihr Furcht einflößte. Der Planet stand knapp über dem Horizont und schimmerte durch eine dichte Nebelschicht unheimlich groß. Man hätte ihn für eine blutige Wunde halten können.
Kalter Wind strich über die Ebene hin. Nur das Rascheln der Blätter war zu vernehmen. Etwas bemächtigte sich des Kindes, fürchterlicher als Furcht. Eisiger Schauer erfaßte sie. Ihr Blick fiel auf den Zuber, wieder kam ihr die Angst vor der Thénardier zu Hilfe. Mit beiden Händen umklammerte sie den Henkel. Mühsam hob sie das Gefäß hoch. Sie tat etwa ein Dutzend Schritte, aber der Zuber war zu schwer, sie mußte ihn wieder absetzen. Nachdem sie Atem geschöpft hatte, hob sie ihn wieder auf und lief diesmal eine etwas größere Strecke. Noch einmal mußte sie stehenbleiben. Wieder einige Sekunden Ruhe. Vorgebeugt, den Kopf gesenkt wie eine Greisin, machte sie sich wieder auf den Weg. Das Gewicht des Zubers zerrte an ihren mageren Ärmchen. Tief gruben sich die Henkeldes Eimers in ihre kleinen, feuchten Hände. Von Zeit zu Zeit mußte sie stehenbleiben, und jedesmal schwippte Wasser über den Rand des Zubers und benäßte ihre nackten Beine.
Ihr Keuchen klang wie ein qualvolles Röcheln. Schluchzen schnürte ihre Kehle zu. Aber sie wagte nicht, zu weinen, so sehr fürchtete sie, sogar aus der Ferne, die Thénardier. Es war ihre Gewohnheit, sich immer vorzustellen, diese Frau wäre zugegen.
Rasch konnte sie auf diese Weise nicht vorwärtskommen, mochte sie ihre Ruhepausen noch so sehr kürzen und jedesmal bis zur Erschöpfung weiterlaufen! Mit Angst und Entsetzen wurde sie sich bewußt, daß sie eine Stunde brauchen würde, um so nach Montfermeil zurückzukommen, und daß die Thénardier sie schlagen würde. Diese Angst paarte sich mit dem Grauen vor der nächtlichen Einsamkeit im Walde. Sie war müde zum Umsinken, als sie den Wald noch nicht hinter sich hatte. Unter einem alten Kastanienbaum machte sie eine letzte, längere Station, dann sammelte sie all ihre Kräfte und begann tapfer gegen das Dorf zuzuschreiten.
In diesem Augenblick fühlte sie, wie der Eimer plötzlich leicht wurde. Eine Hand, die ihr ungeheuer groß schien, hatte den Henkel ergriffen. Sie blickte auf. Etwas Großes, Schwarzes ging in der Finsternis neben ihr. Es war ein Mann, der hinter ihr hergekommen war und den sie nicht gehört hatte. Wortlos hatte er den Henkel des Zubers ergriffen.
Es gibt einen Instinkt, der bei der ersten Begegnung das
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