Lesereise Backsteinstaedte
Doberan
»Hat von Ihnen heute schon jemand in der Ostsee gebadet?« – Verwundertes Schweigen. – »Das frage ich immer zu Beginn meiner Führung!«, lacht die frische forsche junge Frau. – Um uns herum Reisegruppen. Sprachgewirr. Eine Schulklasse. Ein Handyklingelton. Aus dem Mittelschiff schallt »Dona nobis pacem« von einem gerade an der Kasse vorbeigesausten einheimischen Freizeitfrauenchor. Die Akustik in dem spätgotischen Gotteshaus ist gewaltig. Darum fällt es schwer, sich zu konzentrieren. – »Die Ostsee hat heute dreizehn Grad«, fährt die junge Frau fort, »und dreizehn Grad beträgt auch im Münster die Innentemperatur!« Je nach Strömung könne es zwar Schwankungen um ein, zwei Grad geben. Ansonsten aber seien die Temperaturen in der Ostsee und im Münster gleich. – Warum? – »Weil Backstein Wärme speichert! Also immer erst hier drinnen aufs Thermometer gucken und dann die Badesachen raus!« Versteht zwar keiner, aber egal. Außerdem hegt an diesem etwas garstigen Septembertag niemand ernsthafte Ambitionen in Richtung Strand. Und das nahe gelegene Heiligendamm lässt ohnehin keine rechte Badefreude aufkommen. Besser gesagt: nicht mehr. Denn schon allein bei dem Gedanken an das erste deutsche Seebad, 1793 bis 1870 von den Stararchitekten Johann Christoph Heinrich von Seydwitz, Carl Theodor Severin und Georg Adolph Semmler in möwenweiß lackiertem Klassizismus erbaut, taucht sofort der XXL -Strandkorb vor der Kulisse des Grand Hotels auf: mittig platziert die Kanzlerin in figurbetontem Hoffnungsgrün zwischen viermal links, viermal rechts staatstragendem Lächeln ihrer geladenen männlichen Prominenz. Monströse Ereignisse werfen nicht nur ihre Schatten voraus. Sie hinterlassen auch, nachdem alles entsorgt, verraten und verkauft ist, atmosphärische Spuren. Im vorliegenden Falle von wenig schmeichelhaftem Charme. Anders der Riesenstrandkorb. Rund um den Globus verbreitete er die frohe Botschaft: »Seht her! Ich komme aus Heringsdorf von der Insel Usedom!« In der dortigen Korbmanufaktur, weltweit der ältesten ihrer Art, wurde das exklusive Seemöbel aus einem Kubikmeter Holz, fünfundzwanzig Quadratmetern blau-weiß gestreiftem Markisenstoff und zwei Kilometern Flechtband im Auftrag des Landes Mecklenburg-Vorpommern hergestellt. Die gesamte Belegschaft krempelte die Ärmel hoch, schneiderte, sägte, lasierte, montierte. Stramme drei Wochen lang. Selten passte der Sinnspruch der Korb GmbH so gut: »Verflochtene Ruten ein Ganzes ergeben. Ganzes wir stetig erstreben. Verflechtet die Menschheit zum friedvollen Leben.« Überraschend meldete die Korb GmbH Anfang 2009 Insolvenz an.
Wir erklimmen im Münster die ersten Wendeltreppenstufen Richtung Himmelreich, prosaisch umweht von Bauarbeiterstaub. In siebenundzwanzig Metern Höhe die Ostsee am Horizont. »Wahnsinn!«, sagt ein Kölner. Das böte der Dom bei ihm zu Hause nicht. Ins vergnügte Gelächter fragt unsere Münsterführerin: »Kennen Sie Althof?« – Kopfschütteln. Nein. – »Das wäre von hier aus mit dem Zug nach Rostock die erste Station.« – Wozu man das bitte wissen muss? – Ein kurzer Exkurs in die mecklenburgische Ahnengeschichte, welche kiloschwere Folianten füllt, folgt: Dass der Vorläufer des Bad Doberaner Münsters in eben jenem Althof stand, gegründet 1171 von Pribislaw Fürst von Mecklenburg, die Anlage aber schon sieben Jahre später im Zuge eines Erbfolgekriegs weithin verwüstet dalag. Als Sieger ging aus dem Gemetzel Nikolaus von Rostock hervor. Nicht Pribislaws Sohn, Fürst Heinrich Borwien, auch wenn das manch ein schönes Mecklenburgbuch glauben machen will. Eine Urkundenfälschung, sagt unsere frische forsche junge Frau, habe jene Geschichtsverdrehung in Umlauf gebracht. Einer schrieb vom anderen ab. »Und in Mecklenburg dauert es eben eine Weile, bis sich so was herumgesprochen hat.«
Noch immer stehen wir auf siebenundzwanzig Metern Höhe (»Vater unser, der Du bist …«). Derweil uns unsere Münsterführerin erzählt, warum die Klosterkirche genau an diesem Ort geschaffen worden ist. Nikolaus von Rostock, so geht die Legende, entschied seinerzeit: »Wo wir den ersten Hirsch auf unserer Jagd erlegen, werden wir ein neues Kloster bauen!« Schon bald fand eine Jagd genau an dieser Stelle statt. Und ein Hirsch brach unter dem tödlichen Kugelschuss zusammen. >Die Mönche indes, die Nikolaus von Rostock rief, verweigerten den Spatenstich für die Grundsteinlegung, weil ihnen der Boden zu feucht und zu
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