Lesereise Backsteinstaedte
durchsichtig, hell und rein! Dabei besaß die barocke Orgel auch nach ihrer mühevollen Rekonstruktion in den fünfziger Jahren eine ungeheure Ausstrahlung. Nicht umsonst ist sie das größte aus dem 17. Jahrhundert noch erhaltene Instrument in Europa und eines der schönsten überhaupt! » M. FRIEDRICH STELLWAGEN HAT DIESES WERCK VERRICHTET. ANNO 1659« steht auf einer von zwei Engeln eingefassten Kartusche unterhalb des Rückpositivs. Die längste der dreitausendfünfhundert Pfeifen misst zehn Meter, die winzigste acht Millimeter. Die Mannigfaltigkeit der Register offenbart den ausgeprägten Sinn für klanglichen Farbenreichtum, der sich gerade in St. Marien besonders gut entfalten kann. Die spätgotische Kathedrale wurde um 1380 als eine der letzten sakralen Backsteinkunstwerke an der Ostsee gebaut, am Neuen Markt in der Hansestadt, wo sie wie eine Trutzburg, die zugleich Schutz und Wehrhaftigkeit verkündet, mit ihrem rot leuchtenden Ziegelturm, verziert mit Gesimsen und Balustraden einhundertvier Meter hoch ins Ostseefirmament ragt. Ursprünglich war die Turmspitze sogar über einhundertfünfzig Meter hoch, der »wohl größte Turm der Christenheit«, heißt es in einer Kirchendenkschrift. Doch ähnlich wie in anderen Ostseeküstenkirchen schlug 1647 ein Blitz in den Turm ein, der daraufhin ins Kirchenschiff gestürzt war und die Orgel, die bis dahin in St. Marien spielte, zerstört hatte. Viele Brandstellen im Kircheninnenraum zeugen von dem Unglücksfall.
Schon bald beauftragte die damals reiche Hansestadt Friedrich Stellwagen, den »Silbermann des Nordens«, eine neue Orgel für St. Marien zu bauen. Und das tat er in einer Weise, wie sie prächtiger nicht hätte sein können: schwalbennestartig »klebte« die Orgelempore dicht unter dem Gewölbe im schmalen Mittelschiff, überreich geschmückt mit Gambe, Querflöte und Violine spielenden Engeln, die das »himmlische Orchester« der Orgel symbolisieren, gekrönt von Sonne, Mond und Sternen sowie einer Weltkugel, die mit ihren ausgebreiteten Flügeln die Menschheit zu umarmen scheint. Unterhalb des Orgelgehäuses bläst ein Engel in feierlicher Positur eine Fanfare.
1659 hatte Friedrich Stellwagen das Meisterstück fertig gestellt, so wie es in jener Schrifttafel unterhalb der Kartusche festgehalten ist. Die Orgel in St. Marien bildete den Schlussakkord seines Lebenswerks. Wenige Monate später war Friedrich Stellwagen tot. Das genaue Datum kennt man nicht, was für jene Zeit nichts Ungewöhnliches ist. Der Orgelbaumeister hatte in Lübeck seine Werkstatt und war der einzige Orgelbauer in der Hansestadt. Viele Aufträge bekam er aus dem Umland. So auch aus Stralsund.
Schicksalsschläge, zum Beispiel 1770 die Explosion eines Pulverturms in der Nachbarschaft der Kirche, die das gesamte Marienquartier verwüstete, Kriegsbeschädigungen, Verschleiß, Verunreinigungen, Umbauten mit neuen Pfeifen, neuen Bälgen, erweiterten Windkanälen und nicht zuletzt klangliche Eingriffe im Zuge des sich wandelnden Geschmacks – all das hatte das Antlitz der alten Orgel und vor allem ihr Stimmsystem im Laufe der Jahrhunderte erheblich verändert. Die tiefste Zäsur ereignete sich jedoch 1943, als man die Orgel bis auf ihr Skelett, das Balkengerüst, abmontierte, um sie an einen »bombensicheren« Ort zu bringen. Auserkoren wurde dafür Schloss Keffenbrinck nicht weit von Stralsund bei Grimmen. Dass bei dieser abenteuerlichen Operation nicht gerade pfleglich mit dem »historischen Kulturgut« umgegangen wurde, lässt sich denken, obwohl die Auslagerung angeblich mit Sorgfalt vonstatten gegangen sein soll. Ungleich schlimmer war allerdings, was man Engeln, Schnitzwerk und Pfeifen an ihrem gutsherrlichen Notquartier zugemutet hat, nachdem Hitlers Krieg zu Ende war und St. Marien – Ironie der Geschichte? – nicht eine einzige Schramme abbekommen hatte: Unmengen von Orgelpfeifen, Holzfüllungen und Gehäuseteilen wurden im Frostwinter 1944 von den im Schloss untergebrachten Flüchtlingen aus dem Osten verheizt. Doch damit nicht genug. Haufenweise gingen Ornamente, Engel, Figuren bei der »Rückführung« der Orgel nach Stralsund, die die sowjetische Militäradministration 1945 angeordnet hatte, zu Bruch. Zeitzeugin war die Stralsunderin Käthe Rieck, eine Mitarbeiterin des Kulturhistorischen Museums, welches die damals junge Frau mit der Mission betraut hatte, nach Schloss Keffenbrinck zu fahren. Denn außer der Orgel hatte man 1943 auch Museumsbestände dorthin ausgelagert. In
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