Lesereise Backsteinstaedte
sparsamsten Spotlights inszeniert.
Das Granitpflaster der Hafeninsel läuft nahtlos ins Foyer – als würde man »ins Meer« gehen, obwohl das Meer eigentlich auf der anderen Seite liegt. Am Ende der metallgrauen, diagonal ansteigenden Treppe in der von Licht nur so durchströmten Halle ist es wieder umgekehrt. Von dort oben blickt man wie von der Brücke eines Fährschiffes durch eine Panoramascheibe am Horizont ins wirkliche Meer, in die Ostsee. Und zur Orientierung stehen auf dem Glas die markantesten Entfernungen: Danzig dreihundertneunundfünfzig Kilometer, Riga siebenhundertachtundvierzig Kilometer, Bornholm hundertfünfundvierzig Kilometer, Königsstuhl siebenundvierzig Kilometer, Hiddensee achtundzwanzig Kilometer. In einer abermaligen Umdrehung, wie von einer Böe erfasst, führt uns ein Weg zum Auftakt der Ausstellung, einer Art Ouvertüre aus den Brandungsklängen der Weltenmeere, zu hören und zu sehen auf Bildschirmen. Erste Verwirrungen stellen sich ein. Wo sind wir? In einer Luftblase? Getragen von einer Welle? Oder in einer Strömung gefangen? Unter Wasser verliert man schnell die Orientierung. Gefahren lauern, wenn man sich bei Flut hineinbegibt. Doch auch schon ein harmloser Plumps von der Luftmatratze im sommerlichen Ostseebadegewühl vermag panische Reaktionen auszulösen. Ist das Blubbern um Augen und Ohren vorbei, kehrt Erleichterung ein. In der Finsternis der Räume schweift man unbemerkt ab. Oder ist es das Meer, das verborgene innere Bilder aus den Tiefen an die Oberfläche spült? Mit paradiesisch schönen Muscheln und Schneckengehäusen, »Kunstwerken aus Kalk«, fasziniert eine umgehbare Vitrine, scheinbar zufällig und richtungslos in den Raum gestellt. Und niemals zuvor haben wir Plankton, das »Dahintreibende«, so überdimensional vergrößert gesehen – wie aus Mund geblasenem Glas in den Formen von Atomen oder chemischen Gefäßen, flimmernden Fransen, wundersamen Panzern, Fühlern, zauberkundigen Gesichtsausdrücken! Ein einziger Meerestropfen kann Tausende solcher Geißel- und Wimperntierchen enthalten. Im Ozeaneum hängt ein Riesenbündel unter der Decke im Ostseeraum, diffus angestrahlt. Darunter in einer Vitrine (fast alles umschließt Vitrinen) pflanzliches Plankton, ebenfalls nachgebildet, nass glänzende Algen, braune, gelbe, grüne, frisch gepflückt aus den Meeresurwäldern und von Muschelbänken, so könnte man meinen, und nun in einem eigenen Garten hier angelegt. Dass die Ostsee in ihren Umrissen wie ein Krokodil mit weit aufgerissenem Rachen und eingekrümmtem Schwanz aussieht, will ein Relief illustrieren, ein merkwürdiger Vergleich, finden wir. Doch wenn schon das Raubtier aus den Tropen mit der Ostsee in Verbindung gebracht werden soll, dann eher so, schlagen wir vor, wie es Albert Einstein 1918 von Ahrenshoop auf dem Darß einem Freund mitteilt: »Ich liege am Gestade wie ein Krokodil, lasse mich von der Sonne braten, sehe nie in eine Zeitung und pfeife auf die so genannte Welt!«
Kinder kriegen sich kaum ein, sind vor Aufregung völlig aus dem Häuschen: »Da sind ja Schweinswale! Wie süß! Und die Seehunde, die Robben! Voll goldig!« Die präparierten Exemplare werden beseelt. Umso schockierender wirken die vielen Informationen zu den Meeresgefährdungen: durch Dreck und Wracks und Kriegsaltlasten, Schiffsverkehr und Pipelines, martialische Jagden und hoch technisierte Industriefangflotten, die die Meere plündern und als Beifang über Bord werfen, was nicht verwertbar ist – Jungfische, Seesterne, Krebse, Delfine, Wale, Haie, egal, ob tot oder verletzt. Mit Abstand am brutalsten geht die Grundschleppnetzfischerei vor, gierig durchpflügt sie die Meeresböden mit Netzen, an denen Stahlbretter und Ketten hängen, sodass alles, was ihnen in die Quere kommt, zermalmt wird. Jahrtausendealte Korallenriffe wurden schon zerstört.
Das Ozeaneum ist keine Unterhaltungssendung zur Flora und Fauna, sondern eine zeitkritische naturkundliche Schau, die erfahrbar macht, dass wir lediglich Besucher der Meere sind und die verdammte Pflicht haben, respektvoll und achtsam mit ihren Reichtümern und Schönheiten umzugehen. Aufrüttelnde Sätze graben sich ins Gedächtnis ein: »Weltweit brechen die Bestände des Roten Thuns zusammen. Für die Ausstellung konnte kein Tier mehr beschafft werden!« Und unter der Überschrift »Verschwendetes Leben« steht zu lesen, dass nur ein Teil des weltweiten Fischfangs der menschlichen Ernährung dient, allein ein Viertel zu Tierfutter
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