Lesereise Backsteinstaedte
Fock, das den Russen nach dem Zweiten Weltkrieg als Reparationsleistung zugesprochen worden war, im Dienst der sowjetischen Marine – umerzogen zu Kamerad »Towaritsch«. Nach Glasnost und Perestroika segelten Windjammerenthusiasten auf der Bark. Ein unbezahlbarer Reparaturbedarf legte das Schiff über Jahre hinweg lahm. Neuer Eigner wurde 2003 der Verein Tall-Ship Friends. Ihm ist zu verdanken, dass die Gorch Fock nach Stralsund zurückkehrte und mit knallenden Sektkorken auch ihren ursprünglichen Namen zurückbekam.
Tassengeklapper. Kaffeeduft. Auf der Hotelterrasse unter unserem Fenster im ersten Stock werden die honiggelben Sonnenschirme aufgespannt. Die Temperaturen sind frühsommerlich mild, Mitte April! Nun ist es Zeit, aufzustehen. Bei Latte Macchiato und Croissants sinnen wir darüber nach, woher wohl der Name Stralsund stammt? Vermutungen gehen davon aus, dass die Silbe »Stral«, die im Slawischen »Pfeil« bedeutet, mit der Form oder auch Lage des Dänholm zu tun hat. Dafür sprechen überlieferte Belege, auf denen die lateinische Bezeichnung insula strala (Stralinsel) eingetragen ist. Und da es im Ostseeraum schon immer üblich war, Meeresengen nach ihren vorgelagerten Inseln zu taufen, könnte die Verknüpfung von Stral und Sund zu Stralsund stimmen. Andere Meinungen führen den Namen auf jene Siedlung »Strahlow« zurück, die sich Anfang des 13. Jahrhunderts auf der heutigen Altstadtinsel entwickelte und Heringsfang, Heringsverarbeitung sowie Heringshandel betrieb. Fürst Witzlaw I. von Rügen verlieh dieser civitas stralow 1234 das Lübische Recht und hatte damit den Grundstock für ein expandierendes Seehandelszentrum in dieser neuen Stadt am Sund gelegt. 1293 schlossen sich Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund und auch Greifswald zu einem Städtebund zusammen – der Keimzelle der Hanse mit Lübeck und Stralsund als Spitze vornean. Hölzerne Befestigungen wurden zur Sicherung des Stralsunder Hafens errichtet, später massive backsteinerne Hafenmauern. Mehrere Landungsbrücken, damals noch ohne Geländer, reichten bis weit in den Strelasund. Schmiedewerkstätten entstanden im Hafen, stellten Anker, Nägel, Nieten für den Schiffsbau her.
Ja, die Geschichte der Backsteinstädte ist stark wie der Sog eines Ostseestrudels, man muss aufpassen, dass man nicht untergeht. Da hilft nur durchatmen, Kopf hoch und weiterschwimmen, will man einigermaßen verstehen, was man sieht oder umgekehrt sehen, weil man es plötzlich versteht. Zum Beispiel die Hafeninsel. Sie füllt sich allmählich an diesem heiter bis wolkigen Tag mit Reisegruppen, Fotostativen, fröhlicher Stimmung und Staunen. Um 1850 wurde das Areal künstlich aufgeschüttet. Unter Genosse Erich war es trostloses Sperrgebiet. Seit 2008 ist die Hafeninsel ein Magnet, der Stralsunder sowie Ostseegäste aus allen Teilen Deutschlands, aus Europa und der Welt anzieht. Denn im Sommer jenes Jahres wurde hier das Ozeaneum eingeweiht – direkt gegenüber der Gorch Fock, fünfzig Meter vom Hotel Hiddenseer entfernt.
Wie vom Wind aufgeblähte Segel oder vom Wasser umspülte, rund geschliffene Rügenkreide fügen sich die vier weißen Stahlblechbaukörper zwischen die denkmalgeschützten Backsteinspeicher. Schon als der Architektenwettbewerb ausgeschrieben worden war, zeichnete sich ab: Die Stralsunder hatten Appetit auf Transparenz und Leichtigkeit, weniger auf deftige Seemannskost. Für die Begutachtung der über vierhundert eingereichten Entwürfe holte man sich Fachprominenz mit ins Boot, darunter die Osloer Opernbauer Snøhetta, Coop Himmelblau und den britischen Stararchitekten Sir Nicholas Grimshaw. Ausgelobt wurden am Ende die international agierenden Stuttgarter Behnisch Architekten, Vater und Sohn plus hochkarätiger Crew. Eine ihrer Herausforderungen war, eine Lösung für die lichtempfindlichen »Exponate« zu finden. Mit dringenden Bitten wie »Nicht mit Blitz fotografieren! Fische tragen keine Sonnenbrillen!« war das natürlich nicht getan, obwohl man an den Aquarien wortwörtlich diese Hinweise angebracht hat. Im Unterschied zu Abgeordneten im Deutschen Bundestag, dessen Neuen Plenarsaal Behnisch Senior, der gebürtige Dresdner, 1990 preisgekrönt gestaltet hat, sind Fische weder auf Blitzlichtgewitter und Rampenlicht erpicht, noch bekommt es ihnen. Mitsamt ihren Freunden und Feinden sind die Schuppentiere an die dunkle Unterwasserwelt gewöhnt. Fensterlos sind darum im Ozeaneum alle Aquarienräume, nachtschwarz ausgekleidet und mit
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