Lesereise Backsteinstaedte
verarbeitet und »Hühnern und Schweinen zum Fraß vorgeworfen« wird.
Viele Besucher sind entsetzt, nachdenklich, bewegt, alle wollen mehr über die Meere wissen. Und vor den verschiedenen Aquarien, im Falle der Ostsee heißen sie »Bodden«, »Kreideküste«, »Kattegat«, »Schären«, bilden wir uns ein, den einen oder anderen Pulsschlag neben uns zu spüren. Wo kann man schon so nah versteckte Seenadeln und sogar einen Seehasen in einer Seegraswiese entdecken? Dorsche und Hornhechte dabei beobachten, wie sie ihre Bahnen ziehen? Seeanemonen anhimmeln? Versuchen, einen Steinbutt von einer Flunder zu unterscheiden (was nur wenigen gelingt) und darüber philosophieren, ob es sich besser links- oder rechtsäugig lebt?
Unerwartet eröffnen sich von einem zum anderen Ozean unter Glasschrägen und Stegen immer wieder auch Aussichten auf die Stralsunder Altstadt, auf die Backsteinkirche St. Jakobi. Durch mehrere Tore wurden früher alle am Hafen anlandenden Waren in die Stadt transportiert, Schiffszimmerleute, Ankerschmiede, Segelmacher, Seiler wohnten hier. Die während der Hanse angelegten Straßen, Plätze und über fünfhundert Backsteinhäuser haben die Zeitstürme bis heute überlebt – ein wahres Wunder für die alte Seehandelsstadt und Garnison, in der die Weltgeschichte kaum ein Gemetzel ausgelassen hat, von Wallenstein über Napoleon bis hin zu amerikanischen Bombern.
Zurück in der Meereswelt treiben wir »hinter der Ostsee« in neue Meerestiefen hinab, zum Riesenschwarmbecken. Pathos ist hier angebracht. Denn hinter einem achtzig Quadratmeter großen Fenster blitzen Hunderte von Heringen in überwältigend akkurater Anordnung hin und her, als führten sie eine einstudierte Kür zum Synchronschwimmen vor! Die Acrylglasscheiben sind konkav gebogen, dreißig Zentimeter dick und werden regelmäßig von Tauchern sauber geputzt. Aquarientechniker kontrollieren die Wasserqualität. Aus dem Strelasund, der zu trübe und zu salzarm ist, wurde das Wasser nicht gepumpt, sondern aus Trinkwasser und Meersalz im Ozeaneum gemischt. Tierpfleger passen auf, dass es keinen Streit im Becken gibt. Beim Laichen in den Boddengewässern vor Rügen wurden die Heringe mit Reusen gefangen und anschließend mit Eimern vorsichtig herausgeschöpft. Denn anfassen darf man Heringe nicht, das überleben sie nicht. Und beim Fang mit Netzen verlieren sie Schuppen, woran sie sofort eingehen. Schon ein Kratzer an ihrem Silber kann tödlich sein.
Von einer »Liebeserklärung an die Meere« spricht Ozeaneum-Chef Harald Benke, wenn er die neue Filiale des Deutschen Meeresmuseums, das seinen Stammsitz seit 1951 im Stralsunder Katharinenkloster hat, beschreibt. Das ehrwürdige Domizil war das beliebteste Museum seinerzeit in Deutschlands Osten, in Deutschlands Westen kannte es niemand oder hatte es niemand zur Kenntnis genommen. Spätestens in den neunziger Jahren reichte der Platz dort nicht mehr aus, dachte man über Erweiterungen nach. Doch völlig utopisch wäre gewesen, die »Riesen der Meere« unterzubringen – jene Nachbildungen von Walen im dramatischen Verhältnis von eins zu eins, die nun im Tiefseedunkel des Ozeaneums »schwimmen«.
Kunststoffliegen stehen im Halbkreis »auf dem Meeresboden« für die Besucher nebeneinander aufgereiht. Keine ist mehr frei. In wenigen Minuten beginnt das sinfonische Konzert der größten Säugetiere, die die Evolution je hervorgebracht hat. Der Raum ist über zwanzig Meter hoch, hat eine gute Akustik. Wale, besonders Buckelwale, sind für ihre musische Begabung berühmt. Ihre langen Pfeiftöne und dröhnenden Bässe, ihre Rufe, ihre herzzerreißenden Seufzer und sopranistischen Sirenen werden bis zum Jüngsten Tag nachklingen.
Krönung einer Königin
Im Baltischen Orgelzentrum
Stralsund weinte – vor Rührung und vor Freude. Denn über vier lange Jahre musste ihre alte Dame schweigen, hatte man sie ausquartiert, in Tausende von Teilen zerlegt, ihren Gesundheitszustand durchleuchtet und sie anschließend, da der Befund mehr als beängstigend war, mit einem Top-Team aus Dresden, Potsdam, Andel in den Niederlanden und der restlichen Welt in einer beispiellosen Rettungsaktion kuriert! Vor allem für ältere Stralsunder, die St. Marien seit ihrer Kindheit zu Gottesdiensten besuchen, ging jener 28. September 2008 als ein ganz großer Tag in ihr Leben ein, als »der glücklichste Tag«, sagten manche. Denn ihre alte Dame war wieder da! Kaum wiederzuerkennen und mit einem völlig neuen Klang –
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