Lesereise Backsteinstaedte
fürchtete, die Mutter eilte fort. Donner und Blitz rückten über Greifswald heran, die Wolken färbten sich blauschwarz, violett. Wolfgang Koeppen erlebte damals die Silhouette der Stadt, wie sie Caspar David Friedrich 1820 aus der Perspektive der »Wiesen bei Greifswald« gemalt hat. Im Hafen schliefen die Schiffe, die Segler, die Boote. Und die Türme von St. Nikolai, St. Jakobi, St. Marien, »aus rotem Backstein gegen den nie erreichten Himmel gebaut«, erschienen ihm wie »tollkühne Festungen«. Dann, gegen Ende des viereinhalbseitigen Satzes, brodelte, ja brach es geradezu aus dem Kind, das Koeppen war, heraus, dem Kind, das auf die Mutter zutiefst angewiesen war, sie aber auch schützen wollte und zugleich unter ihrer Bürde litt – unverdauliche Lebensbrocken aus den Gassen der alten Stadt. Wolfgang Koeppen hasste Greifswald in seiner Jugend. Wann hatte er von seinem Vater erfahren?
Dr. Reinhold Halben hieß er, ein Privatdozent für Augenheilkunde, der in dieser Gegend der Ostsee wegen seiner Leidenschaft, der Ballonfahrt, vielen ein Begriff war. In der Bahnhofstraße 44/45 hatte der Universitätslehrer gewohnt, im Königlichen Landratsamt. »Klebriges Getuschel« musste Maria Köppen ertragen, »Krötenaugen« glotzten ihr nach, als sich das Verhältnis zwischen ihm und ihr in Greifswald herumsprach und nicht mehr verheimlicht werden konnte, dass sie in anderen Umständen war. In ihrer Not suchte sie zwielichtige Adressen auf, flößte sie sich böses Gebräu ein, schlug sie sich auf den Leib. Eine Fiktion? Am 23. Juni 1906 brachte Maria Köppen in der Bahnhofstraße 4 ihren Sohn zur Welt. Der Privatdozent für Augenheilkunde stand nicht am Wochenbett. Feige verdrückte er sich, zahlte mickrige Alimente, stellte diese bald ein und stritt die Vaterschaft ab. Noch einen Cognac!
Junikinder, sagt man, würden wie Schmetterlinge durchs Leben schwirren, und wenn die Wiesen um sie herum nicht blühen, träumen sie sich Blüten herbei. In Masuren, wo Maria Köppen nach dem Tod ihrer Mutter, sie starb 1908, mit ihrem Junikind vorübergehend gelebt hat, begannen die Wiesen zu blühen – weit weg von Greifswald, weg von den Burschenschaften und Helmbüscheln und den Dämonen hinter fremden Gardinen. In Masuren bei Marias Stiefschwester Olga und Baurat Theodor Wille – sie führte ihm den Haushalt und war auch seine Lebensgefährtin – fühlte sich der Junge pudelwohl. Draußen sein! Im Garten, auf den Feldern, unter Kornblumen! Und wie der Vierjährige, der Fünfjährige hüpfte! Die Pferde streichelte und sich auf ihrem Rücken liegend, auf ihrem wärmenden Fell, den Vögeln ein gutes Stück näher, zum ersten Mal richtig spürte! Als er größer wurde, schreibt Koeppen in seinem Buch, fühlte er sich oft innerlich zerrissen, er musste aufpassen, dass ihm seine Seele »nicht entwischt«. Bei »Tante Olla« und »Onkel« Wille war es genau umgekehrt. Und wie herrlich ihre riesige Bibliothek! Stundenlang vergrub sich der Junge in die schweren Kunstbücher, in die mit Leder eingebundenen Enzyklopädien, Geschichtsabhandlungen, und Architekturbände, an Piranesis Kupferstichen konnte er sich nicht sattsehen. Abends las ihm seine Mutter Märchen vor. Die Wiesen blühten.
Koeppen blieb zeitlebens ein Lesender, wandelnd in der Fantasie, dem Labyrinthischen und Unaussprechlichen näher als der Außenwelt. Dass er nicht selten die Schule schwänzte, um zu Hause unter der Bettdecke in Reclams Universalwelten zu entfliehen, wundert kaum. Seiner Mutter machte das natürlich Kummer. Besonders schlimm war für sie, als sie 1919 nach Greifswald zurückkehrten und ihr Junge wenige Wochen nach seinem vierzehnten Geburtstag die Schule schmiss. Doch er hasste die Greifswalder Paukanstalt, wie er die ganze Stadt hasste. In bester Gesellschaft mit Thomas Mann verzichtete Wolfgang Koeppen aufs Abitur.
Mit pubertärem Heldentum hatte dieser harte Schnitt wenig zu tun. Viel hingegen mit dem festen Willen eines Einzelgängers, sich ein wetterfestes Lebensgerüst abseits planierter Pfade zu bauen. Bevor er 1923 die Stadt verließ, mit gerade mal sechzehn Jahren, und sich als Schiffsjunge auf einem Frachter zwischen Finnland, Schweden und Stettin Wind um die Nase pusten ließ, sammelte er in Greifswald noch ein paar blühende Blumen am Wegesrand: als Laufbursche in einer Buchhandlung, als Volontär im neuen Stadttheater, wo seine Mutter inzwischen Souffleuse war, als Statist und als Kleindarsteller in einer Freilichtaufführung vor
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