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Lesereise Friaul und Triest

Lesereise Friaul und Triest

Titel: Lesereise Friaul und Triest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schaber
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zwanzig Uhr neunundfünfzig wird das Friaul von einem Erdbeben erschüttert, dem bislang schwersten, seit es Aufzeichnungen gibt: Zwischen Moggio, Forgaria und Tarcento werden Erdstöße gemessen, die bis zu acht und neun Grad auf der zwölfstufigen Mercalli-Skala anzeigen. Nur fünfundfünfzig Sekunden dauert der terremoto , wie ihn die Italiener nennen, dann kehrt Stille ein. Eine lähmende Ruhe. Erst nach und nach erwacht das obere Friaul aus seiner Erstarrung. Das Ausmaß des Schreckens scheint unfassbar: Gebäude sind fast vollständig zusammengestürzt, ganze Stadtviertel liegen im Schutt, nur einzelne Mauern ragen aus den Trümmerhaufen. Straßen sind unpassierbar geworden, Bahnlinien zerstört. Felsen sind in Bewegung geraten und Hänge ins Rutschen. Sie haben weitere Häuser niedergerissen und unter sich begraben. Die Zahl der Toten und Vermissten lässt sich noch nicht ermessen. Chaos bricht aus. »An diesem 6. Mai 1976 kam die Welt zum Stillstand«, erinnert sich der Bürgermeister von Gemona, Gabriele Marini. Es dauert Tage, ehe man alle Verschütteten geborgen hat. Fast tausend Tote sind zu beklagen, dazu zweitausendfünfhundert Verwundete.
    Als ob dass nicht schon genug wäre. In den Tagen nach jenem 6. Mai werden im Friaul Hunderte weiterer Beben registriert. Es sind kleinere Stöße, das immerhin, aber wenn sie nur die Vorboten für eine weitere Katastrophe wären? Neue Ängste wachsen.
    Über achtzigtausend Menschen sind innerhalb weniger Sekunden obdachlos geworden. Man hat sie in Notunterkünften untergebracht oder in den Süden der Provinz evakuiert, der vom Beben weniger oder kaum betroffen ist. Tagsüber streunen sie durch die zerstörten Ortschaften, um zumindest ein paar ihrer Habseligkeiten zu retten, nachts kehren sie in ihre Zelte und Baracken zurück. Katastrophentouristen machen sich auf den Weg. Es folgen Diebstähle, klickende Kameras, Sensationsgier. Gleichzeitig rühren Hilfsbereitschaft und Solidarität. Nachbarn, Freunde und Verwandte rücken näher zusammen, Animositäten sind kurzzeitig vergessen.
    Doch die Natur kommt nicht zur Ruhe. Eine Hitzewelle bricht übers Friaul herein. Ihr folgen Regenfluten, in den Bergen fällt Schnee. Die vom Militär errichteten Zeltlager werden überschwemmt, die Bewohner verlieren neuerlich das Dach über dem Kopf und versinken vollends in Hoffnungslosigkeit. Würde ihnen das Schicksal ähnlich bitter mitspielen wie den Menschen in Sizilien nach dem Erdbeben im Januar 1968? Jahrelang hatten sie im Elend hausen müssen, die Aufbauarbeiten waren immer wieder ins Stocken geraten. Im Süden, ja dort mag das irgendwie gegangen sein. Aber wie sollte man hier im Norden nahe der Alpen die nächsten Wochen und Monate überstehen, in einer Gegend, wo die Winter lang und kalt sind? Ängste und Mutlosigkeit ziehen ins Land, den Hilfsmaßnahmen zum Trotz.
    Das Friaul wird zum Notstandsgebiet erklärt. Aus allen Teilen Italiens und Europas trifft Unterstützung ein, Soldaten, Mitglieder von Feuerwehr, Rotem Kreuz und zahlreichen anderen Hilfsorganisationen reisen an. Dazu unzählige Freiwillige, die nach bestem Wissen und Gewissen zupacken. Jeder hilft jedem, jeder muss sehen, wo er bleibt. Der Wiederaufbau beginnt, zögernden Schrittes: »Dov’era e com’era« – wo es war und wie es war. So soll es sein, so ist es beschlossen.
    Und dann, am 15. September 1976, ein weiterer Rückschlag. Wieder erschüttert ein Erdstoß das Friaul. Diesmal gibt es keine Toten, doch neuerliche Schäden. Die Bilanz dieses Terremoto -Jahres ist verheerend: Gut zwanzigtausend Häuser sind zerstört, siebzigtausend schwer beschädigt. Herbst und Winter stehen nun wirklich vor der Tür. Nicht alle vertrauen den Versprechungen von Staat, Militär und internationalen Hilfsorganisationen, viele flüchten sich zu Verwandten oder Freunden ins übrige Italien, um sich zumindest für ein paar Wochen in Sicherheit zu bringen. Andere werden von Panik geplagt und verlassen das Friaul für immer, weil sie der Erde nicht mehr trauen.
    Nicht ganz zu Unrecht: Das Friaul liegt in gefährdetem Gebiet, das weiß man schon lange. An jenem 6. Mai 1976 hat sich die afrikanische Platte um einen Meter unter die europäische geschoben, was das Erdbeben auslöste. Es war dies nicht die erste tektonische Veränderung mit fatalen Folgen: Schon 1348 und 1511 hatte das Friaul schwere Beben zu verzeichnen, mit Tausenden von Toten. Mit Erdstößen kleiner Stärke hatte man ohnehin schon zu leben gelernt.
    Doch

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