Lesereise Friaul und Triest
obwohl sie wissen, dass der Boden, auf dem man sich bewegt, unberechenbar und hochsensibel ist, bleiben die meisten – weil sie keine Wahl haben oder sich nicht trennen können von ihrer Heimat. Das Friaul steht eng zusammen. Immer neue Hilfslieferungen treffen ein. Güter des praktischen Lebens, gefolgt von Ziegeln, Bauholz, Eisentraversen und Dachschindeln, von Heizgeräten, Küchen und Duschkabinen. Gutachter und Statiker sind am Werk, Wissenschaftler bergen Kunstschätze, um Plünderungen vorzubeugen.
Aufbruchsstimmung ist zu spüren. »Dov’era e com’era« – man darf das Friaul nicht einfach aufgeben. Es gibt Krisensitzungen, Komitees und Abstimmungen aller Art, ehe die Pläne stehen. Zwanzigtausend Menschen sind ohne Arbeit. Entsprechend wird entschieden: Zuerst müssen die Fabriken aufgebaut werden, dann erst die Häuser, und zuletzt die Gebäude des öffentlichen Lebens, die Schulen, Gemeindeämter und Kirchen. Kaum eine Stadt oder ein Dorf, die nicht für viele Jahre zur Großbaustelle werden. Ein Land voller Kräne, Bagger und Gerüste, bewacht von Kirchenglocken, die man auf hölzernen Gestellen verankert hat. Sie sind weithin zu hören. Das obere Friaul, dieses spröde Stück Land, wächst selbstbewusst und neu aus dem Boden.
Und doch dauert es Jahre und Jahrzehnte, ehe die Wunden des Bebens vernarbt sind. Ganz zum Verschwinden konnte man sie nicht bringen – und will es auch nicht. Zu beobachten in Venzone, einer Zweitausendzweihundert-Seelen-Gemeinde fünfzig Kilometer nördlich von Udine. Hier und im benachbarten Gemona, zwei prächtigen mittelalterlichen Städtchen, hat das Erdbeben besonders heftig gewütet: Es hat den Großteil der Altstadt zerstört – und damit auch die Geschichte von Venzone fast ganz zum Verschwinden gebracht. Den Schlüssel zum Friaul nennt man die Stadt: Sie liegt wie eine Klause an einer Engstelle im Tal des Tagliamento. Direkt an der Handelsstraße, die den Norden mit dem Süden verband und vom Plöckenpass hinunter zum Meer zog, hatte man dereinst das verbriefte Recht, den Waren- und Personenverkehr zu kontrollieren und Zölle einzuheben. Eine lukrative Einnahmequelle, die den Bewohnern von Venzone zu Reichtum und Ansehen verhalf.
Im Hochmittelalter entsteht eine prächtige Stadt, mit Palästen, wehrhaften Wohnhäusern, einem repräsentativen Palazzo Comunale und einem Dom, dessen Schönheit weithin bekannt ist. Seine ältesten Teile reichen zurück ins Jahr 1251. Um 1300 wird er vergrößert und später um weitere Seitenkapellen erweitert. Erstklassige Architekten und Künstler haben in Sant’Andrea ihre Handschrift hinterlassen, im Relief des Tympanons, in den Kreuzrippengewölben und Skulpturen, in den Fresken der Banner-Kapelle.
Mit der Herrschaft der Venezianer nach 1420 endet auch die Blütezeit Venzones. Die Stadt verliert ihre Rolle als Handelszentrum und fällt in die Bedeutungslosigkeit zurück. Die Bewohner verarmen, niemand hat Geld für bauliche Veränderungen. Und so lebt man über Jahrhunderte hinweg in den mittelalterlichen Häusern weiter. Auch der Dom trotzt allen Stürmen. Ein romanisch-gotisches Juwel, so befinden die Kunstfreunde und Experten des 20. Jahrhunderts und beschließen eine sorgfältige, sieben Jahre dauernde Renovierung. 1975 ist sie abgeschlossen.
Kurz darauf die Katastrophe. Sant’Andrea überlebt den ersten terremoto ohne größere Schäden. Schon wenige Tage nach dem Beben werden alle beweglichen Kunstschätze des Domes geborgen, um sie vor Dieben in Sicherheit zu bringen. Gleichzeitig bietet das Wiener Denkmalamt an, eine fotogrammetrische Erkundung des Bauwerks vorzunehmen, um die Maße jener Bauteile zu eruieren, die das Erdbeben unbeschadet überstanden haben. Die Bedeutung dieser Dokumentation wird den Wissenschaftlern erst bewusst, als die Erdstöße des September 1976 über Venzone hereinbrechen. Sie bringen diesmal auch den Dom zu Fall. Er wird zur Ruine. Nur die Reste einiger Außenmauern bleiben stehen: ein aus den Trümmern der zerstörten Stadt herausragendes Gerippe, ein trauriges Wahrzeichen. Sein Bild geht um die Welt.
Venzone trauert. Dann mobilisiert man neue Kräfte. Jeder Stein des Domes wird aufgelesen, vermessen und nummeriert und schließlich auf einem freien Feld außerhalb der Stadt gelagert, einer neben dem anderen. Eine aufwendige Arbeit, die bis in den Juni des Folgejahres hinein dauert. Gut achttausend behauene Steine kann man auf diese Weise retten, das sind fast neunzig Prozent der
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