Lesereise - Jakobsweg
sind froh, die Bergwertung am Beginn der Etappe zu haben, auch, weil man, wenn man noch frisch ist, die herrliche Landschaft, die mit jedem Schritt mehr an Irland zu erinnern beginnt, besser genießen kann.
Wir gönnen uns in dem kleinen Ort O Cebreiro eine ausgiebige Mittagsrast in einer der zur Bar umgebauten pallozas, das sind alte Häuser aus Schieferstein. Von angenehmer Schlichtheit ist die Bergkirche, in deren Seitenaltar ein vergoldeter Kelch steht, zur Erinnerung an ein Wunder, das sich hier einst ereignet hat: Obwohl ein Schneesturm tobte, kam ein Bauer aus Barxamajor wie jeden Tag in die kleine Bergkirche, um die Messe zu feiern. Der Priester sah ihn und dachte: »Was muss man für ein Einfaltspinsel sein, um jeden Tag so weit zu gehen, nur wegen ein bisschen Wasser und ein bisschen Brot.« Im selben Augenblick verwandelte sich die Hostie in Fleisch und der Wein im Kelch in echtes Blut.
Unser Wein, den wir zum Kartoffeleintopf bekommen, bleibt zum Glück Wein. Er wärmt uns beim Weitergehen, und der eisige Gegenwind kann uns weniger anhaben.
Ab O Cebreiro soll es angeblich einen »Kilometer-Countdown« bis Santiago geben: Von Kilometer 152 an wird alle fünfhundert Meter gezählt. Allerdings merken wir nicht viel davon, weil Souvenirjäger die meisten Tafeln abmontiert haben. Und so haben wir gerade hier, wo die Markierung als perfekt und lückenlos gilt, Schwierigkeiten, den richtigen Weg zu finden. Aber die Straße entlang geht es auch. Viele Autos kommen hier nicht vorbei.
Wir gehen bis Alto do Poio, mit 1337 Metern der Gipfelpunkt der Etappe. Sehr hoch ist das nicht, und doch haben wir den Eindruck, dass Himmel und Erde eins werden. Vielleicht liegt das daran, dass die Wolken hier so tief fliegen. Der Himmel wechselt so schnell – man spürt, dass Europas Wetterküche, der Atlantik, nicht fern ist. Man sieht zwar nach allen Seiten hin ins Land, doch immer wieder kommen Wolkenfetzen, tauchen alles in dichten Nebel. Sie geben den Berg aber schnell wieder frei – und den Blick auf einen orangeroten Sonnenuntergang: Dort hinten liegt Santiago.
Im Hotel auf der Passhöhe bekommen wir ein billiges Zimmer mit Warmwasser und Heizung: Was will der Novemberpilger mehr. Nur der Abendspaziergang durch die Ortschaft fällt nicht so wahnsinnig lang aus, weil der gesamte Ort aus nur zwei Häusern besteht. Also gehen wir über die Straße und setzen uns in die Bar. Hier gibt es einen sensationell alten Tischfußballtisch mit riesigen Vollholzfiguren samt echten Gesichtern und ein warmes Feuer im offenen Kamin.
Samos, 11. November
Ein typisch galicischer Morgen: dichter Nebel und strömender Regen. Es hat schon einen Grund, dass Galicien so grün ist. Der Abstieg von Alto do Poio erinnert nicht nur meteorologisch, sondern auch landschaftlich an Irland.
Nun sehen wir auch die ersten Kilometertafeln. 141 Kilometer sind es noch nach Santiago. Eigentlich ist das ja nicht so wenig, wenn man zu Fuß geht. Dennoch kommt es uns so vor, weil wir Kilometerangaben vor allem von der Autobahn kennen. Und 141 Kilometer, das bedeutet auf der Autobahn: eine Stunde noch …
In Triacastela werden wir mit der Armut der Gegend konfrontiert. Vor der Kirche bettelt uns eine alte Frau an, ob wir etwas zu essen hätten oder Geld, damit sie sich etwas zu essen kaufen könne. Die Provinz Lugo, in der wir uns befinden, galt als die am wenigsten industrialisierte Region der Europäischen Union.
In Triacastela gibt es zwei Möglichkeiten: Der offizielle Weg führt über San Xil und Calvor nach Sarria. Der andere führt über Samos, wo wir im Herbergsbuch folgende Eintragung finden:
»Salut an alle! Zuerst einmal, Gratulation, über Samos und nicht über Calvor gegangen zu sein. Tatsächlich darf man diesen sogenannten Reiseführern nicht glauben, die so tun, als müsste man den ganzen Weg nach Samos auf der Straße gehen. Wie Ihr gesehen habt, stimmt das nicht. Dieser ärgerliche Fehler wird von Führer zu Führer abgeschrieben. Da sieht man, wie unseriös die meisten Autoren recherchieren! Außerdem ist der Weg wunderschön, gespickt mit wunderbar pittoresken Dörfern. Wenn Ihr aus Samos rausgeht, habt Ihr ebenfalls nur wenige Kilometer auf der Straße zurückzulegen, danach zweigt ein sehr gut mit gelben Pfeilen markierter Weg ab. Der ist zwar schöner, aber auch länger. Ihr könnt natürlich auch stur der breiten Straße folgen wie ein Pariser Beamter. Wie auch immer, ich empfehle Euch, am Morgen- oder Abendgebet der Mönche
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