Lesereise - Jakobsweg
hat.
Es gibt einige Attraktionen auf dem bergigen Weg. Zum Beispiel den Tempelritter Tomás, den letzten Bewohner des verfallenen Örtchens Manjarín. Aus Brettern hat er sich eine Hütte zusammengenagelt, über der die Fahne mit dem Templerkreuz weht. Wenn man eintritt, wird – eine alte Tradition – eine Pilgerglocke geläutet. In der Hütte liegen vier Hundebabys an den warmen Ofen geschmiegt; Speck und Knoblauch hängen von der Holzdecke, an der Wand ein Bild von Rittern und ein riesiges altes Schwert. Auf einem Sims steht ein goldener Kelch, ohne Zweifel ein Symbol für den Heiligen Gral. Jeder Pilger kann in diesem refugio – dem eigenartigsten des Weges – bleiben, so lange er will, essen und trinken, so viel er will. Alles ist kostenlos. Tomás lebt nur von Spenden. Jeden Morgen hält er sein Gebetsritual ab, in dem er göttlichen Schutz für alle Pilger auf dem Jakobsweg herbeifleht. Er sieht sich als letzten Hüter der Tradition der Tempelritter, die einst die Pilger vor Räubern, Wölfen und marodierenden Truppen beschützten. Die Räuber und die plündernden Soldaten gibt es zwar nicht mehr. Aber Wölfe kommen oft hierher, erzählt uns Niko aus Hoyerswerda, der als »Knappe« das Templergewerbe erlernt und hilft, die alte Hütte für den erwarteten Pilgeransturm der nächsten Jahre aufzurüsten. Niko kocht Kaffee und versucht, uns das Weltbild der Tempelritter näherzubringen. Ein Leben in Einfachheit und Armut sei wichtig, denn Geld und Luxus lenkten von den essenziellen Dingen nur ab: vom Gebet, von der mystischen Gotteserfahrung, von der tätigen Nächstenliebe.
Die offiziellen Hüter des Pilgerwegs schätzen Tomás nicht sehr. Es scheint, als hätte die katholische Kirche, der alles, was nach echtem Christentum klingt, ohnehin immer suspekt war, den zuständigen Bürgermeister dazu gezwungen, den Templer vom Strom- und Telefonnetz abzuschneiden. Jetzt hilft man sich hier oben mit einem kleinen Dieselgenerator, der aber sehr sparsam eingesetzt werden muss. Vor allem der Winter, erzählt Niko, sei ziemlich hart, weil aufgrund des vielen Schnees die Wölfe näher kämen und jede Nacht versuchten, eine Gans oder ein Huhn zu stehlen.
Nach einer Stunde verabschieden wir uns herzlich vom Ritter und seinem Knappen. Die beiden sind natürlich Romantiker. Aber vielleicht liegen sie damit richtiger als wir Modernen, Aufgeklärten. Sie haben die »Magie des Blicks«. Noch heute sehe ich ihre Augen genau vor mir.
Es wird immer wärmer. Unseren köstlichen Kaffee in El Acebo trinken wir im Freien, in der Sonne sitzend. Auch die Vegetation ändert sich. Der mannshohe Ginster weicht riesigen Kastanienbäumen, die sich auf manchen Wiesen kreisförmig aufgestellt und dadurch traumhafte Picknickplätze geschaffen haben.
Unter solchen Kastanienbäumen, in einem aus alten Plastikplanen gebauten Zelt, wartet Balbino auf Pilger, den ganzen Tag, ohne ersichtlichen Grund. Balbino ist etwa siebzig Jahre alt, sieht aus wie Anthony Quinn, trägt eine völlig verschmutzte Nike-Schirmkappe und schenkt uns Kastanien, die er an seinem Lagerfeuer gebraten hat. Er erkundigt sich genau, ob hinter uns noch viel »los« sei, pilgermäßig. Als wir verneinen, begleitet er uns. Auf einer kleinen Anhöhe müssen wir anhalten und in die Ferne schauen – »seht«, sagt er uns, »das da unten, das ist mein Molinaseca!«
Er liebt seinen Ort aus gutem Grund. Man schreitet über die romanische Pilgerbrücke ein und fühlt sich gleich wohl. Anscheinend ist Molinaseca zur Zeit »in«. Alle Bars und Restaurants sind voll, und die Straßen mit Autos aus Madrid zugeparkt. Wir essen wie so oft ein menu del peregrino, bei dem wie so oft ausschließlich der mitgelieferte Wein genießbar ist.
Vega de Valcarce, 9. November
Heute hat sich wieder einmal erwiesen, dass es wenig Sinn hat zu planen. Nie hätten wir bei unserem Kastanienfrühstück in Molinaseca gedacht, dass wir abends in Vega landen würden.
War die gestrige Etappe über die Montes de León in die fruchtbare Ebene des Bierzo für uns eine der schönsten auf dem spanischen Weg, so lässt sich der heutige Tag gleich weniger gut an. Ponferrada, wo wir nach einer Stunde ankommen, ist eine Industriestadt, und bis auf die Reste der Templerburg aus dem 12. Jahrhundert hat sie nicht viel zu bieten. Besonders der Ausgang aus Ponferrada führt an der Hauptstraße entlang durch Gewerbegebiet und nicht enden wollende Vororte, weshalb wir beschließen, ein paar Kilometer mit dem Bus zu
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