Lesereise Kanarische Inseln
Spanien. Draußen fegt der Wind furios über die Hochebene. Drinnen brennt ein Feuer im Kamin.
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Auf breiten Sofas schlürft man den Gin Tonic mit Blick auf die züngelnden Flammen. Aber der Aperitif macht hungrig. Dafür ist er ja gedacht. Wie in jedem parador ist auch hier in Teneriffa die Speisekarte, auf einem schmiedeeisernen Pult präsentiert, schon außerhalb des Speisesaals einsehbar, damit dem Gast das Wasser im Munde zusammenlaufe und er, schon bevor es Platz zum Essen zu nehmen gilt, mit dem einen oder anderen Gericht liebäugeln möge und ihm die Auswahl leichter falle. Bei der Übersetzung der Karte scheint man deshalb keine Mühe gescheut und einen Sprachartisten angeheuert zu haben. Oder der Mann hat am Fuß des gegenüber aufragenden Fast-Viertausenders schlicht und einfach an Höhenkoller gelitten. Die Karte jedenfalls empfiehlt vorneweg einen Herbstsalat an »Riechfläschchen aus Yoghurt«. Doch, die dreierlei Dressings aus dem gesunden Milchprodukt über den hübsch arrangierten frischen Blättern munden überaus apart. Auch das »Mit Kartoffelbäcker geröstete Ferkel« ist schmackhaft und eine gute Grundlage für den morgigen Gipfelsturm, auch wenn nur Erdäpfel und kein Bäcker als Beilage gereicht werden. Interessant erscheint auch das Gericht »Türkei stopfte sich mit Foie voll«. Der Begleiter bestellt die geheimnisvoll orientalisch anmutende Speise. Serviert wird eine üppige Portion Truthahn mit einer Füllung aus Stopfleber. Eine überaus gelungene Kombination übrigens. Am benachbarten Tisch rätselt inzwischen ein Schweizer Paar über den kulinarischen Vorschlägen. Ob wir wüssten, was mit den »kleberfreien Speisen« gemeint sein könnte?
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Kreatives Assoziieren über die Tische hinweg bringt uns gemeinsam auf die richtige Spur: Hier ist auch glutenfreie Diätkost zu haben! Zum Abschluss der Mahlzeit lockt eine »Zusammenstellung des Kanarienvogels«, die sich als köstliches Arrangement diverser Inselkäse herausstellt. Eine Verkostung der »Vegetarischen Desserts« verschieben wir auf den nächsten Tag. Die Weinkarte ist übrigens leider nicht übersetzt.
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Kein Respekt vor Gottes Finger
Alle Macht dem Atlantik: Im wilden Nordwesten Gran Canarias
Das Blau der See wetteifert mit dem Azur des Himmels. Die panza del burro , jene »Eselsbauch« genannte Wolkendecke, die im Hochsommer über der Hauptstadt Las Palmas hängt wie ein riesiges Sonnensegel, reicht nicht bis Puerto de las Nieves. Eine schroffe Steilküste liegt dem Hafenort gegenüber. Sein Wahrzeichen, der Dedo de Dios, ein Felsen in Form einer Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger, ist vor ein paar Jahren bei einem schweren Sturm verstümmelt worden. Nicht einmal vor »Gottes Finger« hat der Atlantik Respekt. Heute atmet der Ozean mit ruhiger Dünung. Hinter dem Hafenbecken dösen Fischerhäuser mit blauen Fensterrahmen und Türen in der Sonne, sind aufgeputzt mit Dekorationen aus Netzen, Muscheln und Schwämmen.
Ricardo, ein alter Fischer mit wettergegerbtem Gesicht, steht am Ende des Kais in der Sonne und hält die Angel in den kristallklaren Atlantik. Eine frische Brise weht um diese Stunde, und Ricardo trägt eine dicke Jacke. »Der ewige Wind ist unsere Klimaanlage«, sagt der Seemann, »deshalb wird es auch im Sommer niemals zu heiß auf den Kanarischen Inseln.« Nur noch rund ein Dutzend professionelle Fischer gebe es im Ort, erzählt Ricardo. »Die
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jungen Leute wollen die harte Arbeit nicht mehr machen, haben keine Lust, sich ganze Nächte auf See um die Ohren zu schlagen und wochenlang ohne Verdienst zu sein, bis man endlich auf einen größeren Schwarm Fische trifft. »Manchmal aber, wenn das Glück uns lachte, haben wir in einer Nacht Millionen gemacht«, sagt sein Kollege Manolo, meint allerdings einen Betrag in den nicht mehr als Zahlungsmittel vorhandenen Peseten.
Boote laufen ein, kippen ihre silbrig aufblitzende Sardinenfracht in das mit Netzen abgesperrte »Gehege« im Hafen, wo die Fische bleiben, bis ein Käufer sie ordert. Nur einen Steinwurf vom Hafen entfernt findet sich die Kirche Ermita de Nuestra Señora de las Nieves. Blendend hell leuchtet ihre Fassade, gleißt in den Augen wie Schnee. Palmen umstehen die Kapelle, fächeln dem Haus der Madonna Luft zu. Die Sonne hat nun den Stumpf des Dedo de Dios erreicht. Ein Schwarm von Möwen sitzt darauf und badet im Licht.
Nur wenige Kilometer sind es von Puerto de las Nieves zum Barranco de Agaete. Das enge Tal präsentiert sich wie ein
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