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Venus

Venus

Titel: Venus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Buschheuer
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    Prolog
    Es ist ein dampfend heißer Frühsommertag, als wir durch Manhattan fliegen, auf der Suche nach unserer Sommergeschichte. An der Upper East Side werden wir fündig. Durch ein riesiges blitzblank geputztes Fenster sehen wir eine nackte Frau stehen, reglos neben einem nackten Mann, dieser auch reglos, aber liegend, blutend, aus vielen Wunden, zwischen ihnen ein Messer.
    Wir nähern uns der Wohnung, dem Zimmer, betrachten die beiden. Es ist nicht viel Ausdruck im Gesicht des Mannes, denn er ist ja tot. Das ist offenkundig, dass er tot ist, und jeder, der schon mal einen Toten gesehen hat, wird bestätigen, dass der Unterschied zwischen einem lebenden nackten Mann und einem toten nackten Mann derselbe ist wie zwischen einem Fisch im Wasser und einem Fisch in der Dose. Erloschen, entseelt, nichts als der Verwesung ausgesetztes Fleisch.
    Auch im Gesicht der Frau ist nichts zu lesen, und das, obgleich sie lebt. Sie ist schön gewachsen, zweifelsohne, ausgestattet mit einem milchweißen Körper, an dessen Hals hektische Flecken wie Klatschmohn wachsen. Breitbeinig steht sie da, Füße nach außen, vor sich hin starrend, nicht direkt zum Toten am Boden, eher hindurch, vorbei, woanders hin, dorthin, wo keiner ihrem Blick folgen kann, wir jedenfalls nicht. Die Geburt der Venusfällt uns ein, und wir spüren brennenden Hunger auf die ganz große Tragödie.
    Erst nach Minuten öffnet sich Venus’ Hand, spreizen sich spillerige Klavierfinger, als würden sie das Messer fallen lassen wollen, wenn es nicht schon am Boden läge. Sie läuft einige Schritte zum nächsten Zimmer, Staubflocken tanzen zwischen ihren nackten Füßen, als sie ihren etwas zu dünnen Körper über den Marmorfußboden balanciert, sie reckt ihren ohnehin etwas zu langen Hals, greift nach einem roten Büstenhalter, einer roten Unterhose, einem roten Sommerkleid, rot wie das Blut am Körper des Mannes, am Messer, auf dem Boden, das frische Blut, dessen metallener Geruch in der Luft hängt. Sie zieht sich an, mit den eckigen Bewegungen einer Gliederpuppe, und verlässt die Wohnung.
    Wir gehen ihr natürlich nach, denn an diesem Eckpfeiler der Geschichte ist unser Interesse erwacht, wir heben an ihm das Bein wie ein Hündchen; was passiert ist, wollen wir wissen, und natürlich auch, warum, warum eher als wann, und ob die beiden einander geliebt haben oder nur Liebe gemacht oder nicht einmal das. Wir wollen wissen, was nun wird aus der Frau, denn was aus dem Mann wird, ist ja klar. Der Mann wird in eine Tüte gepackt, in eine Kühltruhe geschoben, er wird aufgeschnitten, ausgenommen, wieder gestopft und später vergraben. Wir gehen also ihr nach, weil uns das interessanter erscheint, als neben ihm hocken zu bleiben und auf die Herren von der Spurensicherung zu warten, wir sind von Neugier gepeinigt, von Schadenfreude, Mitleid, Sensationslust, wir wollen alles, alles über die schöne bleiche Venus wissen.
    Sie aber läuft nur, und wenn wir nicht von dem Toten wüssten, würden wir vielleicht das Interesse verlieren,eine Frau, die die First Avenue hinunterläuft, barfuß, Block für Block, im flammend roten Kleid, auch wenn sie dabei fabelhaft aussieht, auch wenn ihr Spaghettihaar wie eine weiße Flagge im Sommerwind flattert, auch wenn dieser Langlauf vor der atemberaubenden Kulisse von Manhattan geschieht, so erschöpft sich doch der Anblick nach und nach, nur unser Herrschaftswissen hält uns bei der Stange. Niemand, der die milchweiße hellblonde Frau sieht, weiß, was wir wissen. Niemand kann in ihrem blassen Gesicht lesen, dass es gerade den Tod geschaut hat.

1     Verliebung
    Eine halbe Stunde später ist die Protagonistin unserer Sommergeschichte schon fünfundzwanzig Blocks downtown gelaufen, und uns beruhigt die Vorstellung, dass kein Mensch New York zu Fuß verlassen kann, weil das Wasser ihn früher oder später aufhalten wird, in welche Himmelsrichtung er auch immer zu fliehen versucht.
    Die Venus wird über kurz oder lang den Südzipfel der Insel erreichen, und dann ist nämlich Sense.
    Aber das scheint sie nicht zu stören. Sie läuft. Sie läuft. Sie läuft wie jemand, dessen Ziel es ist, zu laufen, den steinharten Boden Manhattans mit sorgsam manikürten Zehen abzumessen, wie jemand, der kapriziös ist oder wütend oder ganz und gar gedankenversunken. Wir sind fest davon überzeugt, dass es nicht zum Tagesgeschäft dieser Frau gehört, mit nackten Füßen über New Yorks heißen Asphalt zu laufen, dazu sieht sie zu elegant aus

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