Lesereise Malediven
es am Landungsfloß des Wasserflugzeugs eingesammelt und zum Katamaran »Explorer« gebracht. Mit staatsmännischem Ernst beobachtet der junge englische Kreuzfahrtdirektor das Manöver, das sich jeden Montag und Donnerstag neu vollzieht: Die Passagiere balancieren vom Boot zum Katamaran, werden mit Handschlag begrüßt, versenken ihre Gesichter in zitronenduftenden kalten Tüchern, während Teile der Besatzung auf einheimischen Trommeln lärmen – ein Initiationsritus, der alle Bande zum Alltag kappt.
Charlie komplettiert ihn mit den Worten: Schuhe aus. Nackte Füße sind die Chiffre maledivischer Erholung, fern der Welt, fern aller Zwänge. Nicht nur in den Resorts, auch auf diesem Schiff. Von jetzt an werden wir Schuhe nur noch brauchen, wenn es zum Landgang auf bewohnte Inseln geht. Sie stapeln sich an der Wand neben der Tür, die zu den zehn Kabinen des Katamarans »Explorer« führt. Zwanglosigkeit ist das oberste Gebot an Bord. Die Crew, überwiegend unter dreißig, vermittelt das Konzept vom entspannten Luxus bei bester Laune. Später nehmen wir barfuß und in legerer Abendkleidung an Deck Platz – zum Begrüßungsdinner mit Kapitän Chris Ellis, einem schweigsamen Australier. Die Sterne funkeln am Himmel, der Chardonnay ist kühl, aus der Suppe steigt der Duft von Zitronengras.
Sind die Inseln im Indischen Ozean über Wasser schon Postkartenträume aus Palmenstrand und türkisfarbenem Meer, so liegen ihre eigentlichen Attraktionen unter Wasser: die Korallenriffe. Schließlich besteht das Staatsgebiet ganz überwiegend – zu 99,7 Prozent – aus Meer. Wer auf einer der knapp über hundert Resort-Inseln Urlaub macht, schnorchelt täglich vor dem Hausriff. Und kennt bald jeden Krebs am Strand, jeden Flughund in der Luft vom Sehen. Die Inseln sind überschaubar und erfordern bei längerem Aufenthalt gehaltvolle Lektüre und gute Gespräche mit dem Partner. Bei der typischen Klientel – Verliebte, Flitterwöchner, Taucher und Ruheständler – ist das kein Problem. Anderen interessanten Zielgruppen wie etwa aktiven, Abwechslung suchenden Vielverdienern reicht das Prinzip »No news, no shoes« als Urlaubserlebnis aber womöglich nicht aus.
Die kanadische Hotelgruppe Four Seasons hat das Robinson-Dilemma frühzeitig als Problem identifiziert und eine Lösung erarbeitet: die »Explorer«, die seit Dezember 2002 als schwimmende Außenstelle des Resorts auf Kuda Huraa mit siebzehn Knoten durchs Meer gleitet. Klein und wendig, erreicht der neununddreißig Meter lange und zwölf Meter breite Katamaran, der eigentlich eine Motorjacht mit Doppelrumpf ist, auf einer Nord- und einer Südroute auch entlegene Tauch- und Schnorchelreviere. Er war keinesfalls der erste Tauchkreuzfahrer – aber das erste Luxusschiff, das durch die Atolle der Malediven kreuzt, zu bewohnten Inseln und einsamen Sandbänken. Von seinem Sonnendeck aus sieht das viel beschworene Paradies jeden Tag ein bisschen anders aus.
Es ist in verschwenderischen Farben und sparsamer Gegenständlichkeit gemalt: das Meer, das in allen Schattierungen von Türkis leuchtet, der Himmel, die hingetupften Inselchen – eine Kulisse von ruhiger Ewigkeit, vor der der Wechsel zwischen Nichtstun an Bord, Ausflügen unter Wasser und sporadischem Kontakt zur Außenwelt eine eigene Dynamik entwickelt. So selbstverständlich sich dieser Rhythmus zu ergeben scheint, so ausgeklügelt ist er. Charlie Parker wäre nicht mit siebenundzwanzig Jahren Direktor des Schiffes geworden, würde er dazu neigen, Dinge dem Zufall zu überlassen. Entspannte Perfektionisten wie er verschwinden zwar in der Regel nach zwei bis drei Jahren ins Management eines Hotels oder Resorts auf einem anderen Kontinent. Doch kann man sich ebenfalls darauf verlassen, dass ihre Nachfolger ihre Aufgabe nicht weniger elegant erfüllen. Vorträge über Meeresfauna oder Korallenbleiche und Ausflüge zum Hochseefischen sind mit leichter Hand in den Tag gestreut, der ganz unmerklich verfliegt. Zwischendurch sehen wir Delfine übers Wasser hüpfen und denken darüber nach, wann wir es bloß schaffen sollen, uns an Deck oder an einem einsamen Strand unter die Hände der an Bord (und wahlweise auch an Land) tätigen Masseurin zu begeben.
Ansonsten sind wir jeder Eigenverantwortung entledigt. Kaum sind wir dem Wasser entstiegen, reicht man uns Handtücher. Noch bevor wir Durst verspüren, steht ein Kellner vor uns. Hinter dieser Leichtigkeit steht ein enormer Aufwand, der den Gästen unsichtbar bleibt. Wir ahnen
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