Lesereise New York
Pralinen in Vitrinen dar, als wären es Colliers. Das Pfund Bitterschokolade mit einem Hauch von russischem Tee war für hundertzwanzig Dollar zu haben. An der Ecke hatte Tiffany eine Dependance eröffnet.
Ein wenig von diesem Aufschwung hatte auch Minas abbekommen. Die neuen Nachbarn hatten ihn lieb gewonnen, die Damen ließen sich von ihm die abgebrochenen Absätze wieder ankleben und die Touristen kauften sich bei ihm Schnürsenkel für ihre Turnschuhe. Minas machte zumindest keine Verluste mehr und langsam begann er sogar, daran zu glauben, dass er doch den Tag noch erleben wird dürfen, an dem er im neuen World Trade Center seinen Laden wieder eröffnen kann. Nur noch zwei Jahre muss er durchhalten, bis der zu drei Viertel fertige Turm offiziell eröffnet wird, dessen Baukräne in über fünfhundert Metern Höhe Minas von seinem Laden aus sehen kann.
Die Geschichte von Minas ist die Geschichte von Lower Manhattan, jenem Viertel, aus dessen Mitte vor zehn Jahren die beiden monumentalsten Bauwerke der westlichen Hemisphäre einfach gesprengt wurden. Das Attentat hat die Gegend zwischen dem Hudson und dem East River und südlich der Brooklyn Bridge jäh zum Stillstand gebracht. Und der Neubeginn war so stotternd, dass Alteingesessenen wie Minas langsam die Geduld und die Zeit ausgehen.
An der Fulton Street etwa, die das untere Manhattan von Osten nach Westen durchschneidet, ist der Aufschwung bis heute ausgeblieben. Eine hochmoderne neue U-Bahn-Station an der Ecke Broadway sollte die Menschen aus der ganzen Stadt an die Fulton Street bringen. Die Straße sollte ein eleganter Einkaufs- Strip für ganz Manhattan werden, eine Art Fifth Avenue Süd. Aber die Bahnstation war auch elf Jahre nach dem Attentat noch eine Baustelle. So ist die Fulton Street noch immer eine Ansammlung von Ramschläden, in denen sich die Beamten der Behörden an der Centre Street – Niedrigverdiener meist – vor dem Nachhauseweg in die Außenbezirke mit dem Nötigsten eindecken.
Acht Jahre waren verschenkt worden, hier unten in Lower Manhattan, acht Jahre, in denen alles darauf wartete, dass es am Ground Zero vorangeht. Doch bis zum Sommer 2010 passierte nichts in der gespenstischen Baugrube zwischen Liberty und Fulton Street. Bis das Gelände wieder Teil des Gewebes der Stadt wird, dauert es noch mindestens bis zum Jahr 2015.
Immerhin ist der Rohbau des World Trade Center Nummer eins seit dem Sommer 2012 wieder der höchste Bau der Stadt. Der fünfhundertsechsundvierzig Meter hohe Glaskoloss überragt die neue skyline des unteren Manhattan, aus der nach 2001 vorübergehend wieder das Art-déco-Juwel Woolworth Building herausstach. Bezugsfertig wird der Bau jedoch erst 2014 und die hundertvier Stockwerke sind noch längst nicht alle vermietet. Hätte nicht der Bauherr selbst, der Staat New York, siebenunddreißigtausend Quadratmeter angemietet und der Condé Nast Verlag einen satten Rabatt erhalten, wäre der einzige Interessent eine chinesische Finanzfirma geblieben.
Pünktlich zum zehnten Jahrestag der Anschläge wurde zwar das Mahnmal eröffnet, die zugehörige Gedenkstätte lässt allerdings weiterhin auf sich warten. Erneute Finanzierungsstreitigkeiten ließen 2012 ein ganzes Jahr lang jegliche Bautätigkeit dort erlahmen. Die Tausenden von täglichen Besuchern des Siebenhundert-Millionen-Dollar-Wasserbeckens, um das herum die Namen der Opfer in schwarze Stahlplatten graviert sind, werden noch immer umständlich von der Church Street aus durch die riesige Ground-Zero-Baustelle geschleust, um an die Stelle der Andacht sowie den zugehörigen Souvenirshops zu gelangen.
Wenn man New Yorker fragt, wer für die lange Lähmung am Ground Zero verantwortlich ist, dann werden die meisten den Namen eines Mannes nennen: Larry Silverstein. Der kleine, knorrige Immobilienmogul, Sohn eines russisch-jüdischen Immigranten aus Brooklyn, ist in vieler Augen der Bösewicht des 11. September, ein selbstsüchtiger Profiteur, dem das finanzielle Eigeninteresse von Anfang an über das Interesse der Stadt, der Angehörigen der Opfer und der symbolischen Bedeutung des Ortes ging.
Silverstein hatte unmittelbar vor dem 11. September 2001 bei dem Eigner des Geländes, der Hafen- und Transportbehörde Port Authority, einen Pachtvertrag über neunundneunzig Jahre für das World Trade Center unterschrieben. Es war ein riskanter Schachzug, der New Yorker Immobilienmarkt war nach dem Platzen der Dotcom-Blase Ende der neunziger Jahre eher flau. Die Finanzfirmen,
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