Lesereise New York
machen sollte. Dazu wurde einer der Vergnügungsparks nach dem anderen auf Coney Island geschlossen. Oder sie fielen, wie der Steeplechase, mysteriösen Brandstiftungen zum Opfer. Die alte Ansammlung an Einfamilienhäusern und kleinen Geschäften nördlich des Strandes entlang der Mermaid Avenue wurde einfach niedergewalzt und durch Plattenbauten ersetzt.
Natürlich passierte dort die vorhersehbare Katastrophe. Die Plattenbauten wurden keine humane Behausung für die unteren Einkommensschichten sondern ein Nest für Drogenhandel, Kriminalität und Bandenkriege. Und das alte, vulgäre Strandleben, das Moses hatte loswerden wollen, blieb auch. Die Menschen fuhren weiterhin zu Zehntausenden am Wochenende hier heraus, die Amüsierbetriebe und Bierbuden hielten sich bis heute in ihrer verkrüppelten, heruntergekommenen Form.
Trotzdem ist man sich darüber einig, dass etwas passieren muss mit Coney Island. Doch die Frage, die hier nun schon seit Jahrzehnten den Fortschritt lähmt, ist, was es denn ist, das aus Coney Island werden soll. Da gibt es diejenigen wie Charles Denson, der sein ganzes Leben hier zugebracht hat und der das Coney Island History Project leitet. »Coney Island ist die letzte Zuflucht der einfachen Leute«, sagt er, während er vor seiner kleinen Informationsbude direkt unterhalb des Cyclone steht. »Es ist der letzte Ort, wo Familien mit kleinen Einkommen ein Sommerwochenende verbringen können, ohne wie in Disney World ein Vermögen ausgeben zu müssen. Und so soll es auch bleiben.« Modernere, hübschere und vor allem mehr Rummelattraktionen wünscht er sich zwar auch. Doch der Charakter und das Publikum, das so viele Jahrzehnte lang Coney Island treu geblieben ist, soll bleiben.
Und dann gibt es diejenigen, die ehrgeizigere Pläne für Coney Island haben. Der Unternehmer Joe Sitt etwa, der ein Vermögen mit Unterwäsche für übergewichtige Damen gemacht hat, wollte hier ein Super-Hotel-Casino im Las-Vegas-Stil errichten, ein Bellagio der Ostküste, nebst Luxuswohnungen mit Meerblick. Kurz, einen weiteren Tummelplatz für die Superreichen.
Um dieses Projekt zu verwirklichen, hatte Sitt bereits ein Grundstück nach dem anderen entlang des boardwalk aufgekauft. Doch dann kam die Wirtschaftskrise von 2008, die Finanzierung für das Vorhaben fiel durch und Sitt musste die Grundstücke an die Stadt verkaufen. Fünfundneunzig Millionen blätterte der Steuerzahler hin, um den Großbaumeister von seinem toten Kapital zu befreien.
Für diese Summe versprach Bürgermeister Bloomberg den Menschen von Coney Island, so wie Denson sich das wünscht, den alten Charakter der Halbinsel zu erhalten. Die billigen Achterbahnen sollten bleiben, ebenso wie die schäbigen Buden am Strand. Sogar Ruby’s, die alte Spelunke von Ruby Jones, der als Kind in den zwanziger Jahren am Strand Eis verkaufte, sollte seinen Pachtvertrag behalten. Doch 2011 fand ein Reporter heraus, dass die Stadt insgeheim den Bau von viertausendfünfhundert Luxuswohnungen genehmigt hatte.
Jetzt geht die Angst um in Coney Island, dass die Proll-Kultur, die den Strand seit Jahrzehnten bestimmt, doch noch verdrängt wird – zugunsten derselben keuschen, keimfreien und faden Konsumkultur, die sich überall in New York breitgemacht hat: Markenboutiquen, Starbucks und Fast-Food-Ketten statt fliegender Hotdog-Händler, illegaler Bratfischverkäufer und Ruby’s. Coney Island, so die Befürchtung, könnte zu einem zweiten Times Square werden – einem glitzernden, blinkenden, überteuerten Nichts.
Manch einer hier nimmt das Schicksal der Insel mit philosophischer Gelassenheit. Frank Gluska, seit sechsundzwanzig Jahren Barkeeper im Ruby’s, sagt etwa: »Weißt du, es ist mit Coney Island wie mit deiner Großmutter.« Dabei zapft er ein »Ruby’s Amber« im schummerigen Schankraum für einen der Stammtrinker, die von der Theke aus in das grelle Licht vom Meer hinausblinzeln. »Sie ist alt und gebrechlich, und du weißt, dass sie es nicht mehr lange macht. Es tut weh, aber man ist darauf vorbereitet.« Dann wischt der pausbackige Mann mit dem schweren Brooklyner Akzent den modrigen Tresen ab und richtet eines von Hunderten vergilbter Fotos vom alten Coney Island, die an die Wand hinter der Theke gepinnt sind. Aus der Jukebox tönt eine Schnulze von Tony Bennett.
Andere geben sich noch kämpferisch, wie etwa die dicke Terry mit dem grell rosaroten Lippenstift, die am Anfang vom boardwalk Muscheln und Fritten verkauft: »Ich bin nächstes Jahr immer
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