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Lesereise New York

Lesereise New York

Titel: Lesereise New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Noll
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noch hier, darauf kannst du deinen Arsch verwetten«, sagt sie. »Wir überlassen Coney Island nicht den Reichen.«
    An der Surf Avenue, die parallel zum boardwalk hinter dem Strand verläuft, sitzt derweil Dick Zigun, den sie den inoffiziellen Bürgermeister von Coney Island nennen, auf einem Hocker vor seinem Theater. Der gelernte Regisseur betreibt hier seit dreißig Jahren eine sideshow – ein Kuriositätenkabinett mit Schwert- und Feuerschluckern und Kontorsionisten, wie sie in der Frühzeit von Coney Island, in den zwanziger Jahren, Mode waren. Ihm kann niemand vorwerfen, dass ihm nichts am alten Coney Island liege, aber gegenüber dem, was jetzt bevorsteht, hat der bärtige Mitfünfziger mit der Nickelbrille und den großflächig tätowierten Armen kapituliert. »Es hat keinen Sinn, gegen den Kapitalismus anzukämpfen«, sagt er. Jeder müsse jetzt sehen, wo er bleibe. Er selbst, das steht allerdings fest, bleibt hier – gerade hat er das Haus gekauft, das seine sideshow und sein Coney-Island-Museum und die Freak-Bar im Erdgeschoss beherbergt. Das Coney Island der Außenseiter und der Inkommensurablen wird also wenigstens hier weiterleben: als das, was es ohnehin schon lange ist, als freak show .

Der Traum vom großen Wurf
Die Streetball-Spieler von New York
    Man sieht Lloyd Daniels an, dass er nicht mehr der Jüngste ist. Seine roten Sneakers der Kult-Marke BK kleben auf dem grün bepinselten Asphalt, die Knie und die Hüften sind von vielen hunderttausend Stauchungen auf solchen Belägen steif wie rostige Scharniere. Doch dann steht der Zweimeter-Mann mit der Nummer dreizehn auf einmal wie durch ein Wunder mit freier Schussbahn in perfektem Winkel zum Korb und hat den Ball in den tellergroßen Händen. Der Blick wandert zum Himmel und dann zieht er mit der Lässigkeit von fast vierzig Jahren Erfahrung ab. Mit einem satten Schmatzen sinkt der Ball durch das Netz.
    Ein breites Grinsen legt sich auf das Gesicht des kahlköpfigen schwarzen Mannes mit dem leichten Silberblick und für einen Augenblick vergisst man, dass er vierundvierzig Jahre alt ist. Er strahlt wie ein kleiner Junge, während ein Raunen durch die Menge geht, die sich an den Maschendrahtzaun rund um das Spielfeld gehängt hat wie eine Herde von Schimpansen. »Llooooyyyyyyd Daaaaaaniels, Ladies and Gentlemen«, heizt der Platzsprecher ein, der auf einem Klappstuhl hinter dem Korb sitzt und eine Flüstertüte am Mund hat. Und für die, die nicht wissen, wer Daniels ist, fügt er an: »This man has seen it all« – dieser Mann hat alles gesehen. »This man has tasted the dream« – er hat den großen Traum kosten dürfen.
    Daniels hat in der Profi-Liga NBA gespielt, neun Jahre lang, bei den San Antonio Spurs, den New Jersey Nets und den LA Lakers. Er hat das geschafft, wovon jeder hier träumt. Er war dort, wo jeder schwarze Junge in Amerika, der je einen Basketball in der Hand gehabt hat, einmal hin möchte. Doch jetzt ist er wieder dort gelandet, wo alles anfing. Auf der Straße.
    Es ist Hochsommer in New York, der Asphalt glüht, die Luft ist dick wie Watte, der Geruch von faulendem Müll hängt in der Luft. Und Sommer in New York ist Basketballzeit. Auf den Hunderten von viel zu klein geratenen, zwischen die Wohnsilos gezwängten Spielplätzen, auf denen irgendwann einmal jemand einen Korb aufgestellt hat, wird den ganzen Tag gedribbelt, gepasst und geschossen. Morgens spielen die kids , die jetzt Ferien haben, nachmittags die girls und jetzt am Abend tragen die Männer und die Beinahe-Männer ihre Turniere aus, die am Memorial-Day-Wochenende Ende Mai anfangen und am Labor Day Anfang September zu Ende gehen.
    Das hier ist aber nicht irgendein beliebiger New Yorker Court. Das hier ist der berühmte Cage an der West 4th Street, mitten im Greenwich Village, der seit Jahrzehnten mit Rucker Park in Harlem eine Rivalität um den wichtigsten und besten Streetball -Platz der Stadt und somit der ganzen USA pflegt. NBA -Stars wie Dr. J., Walter Berry und Jayson Williams haben hier angefangen und auch Lloyd Daniels, der Mitte der achtziger Jahre auf dem viel zu kleinen Feld lernte, sich unter dem Korb durchzusetzen. Und so hofft jeder Junge, der das Glück hat, einen der begehrten spots in einem Team im Cage zu ergattern, dass auch er einmal wie Daniels und die anderen den Traum kosten wird. »Der Cage ist ein Wunderland der unbegrenzten Möglichkeiten«, glaubt etwa ein durchtrainierter Neunzehnjähriger mit einem riesigen Brillantohrring, den sie

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