Hannibal
KAPITEL 1
Man sollte annehmen, daß solch ein Tag förmlich danach fiebert anzubrechen ... Clarice Starlings Mustang röhrte die Auffahrt des Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms in der Massachusetts Avenue hoch, ein Hauptquartier, das man aus Sparsamkeitsgründen von Reverend Sun Myung Moon angemietet hatte. Die Wagenkolonne der Einsatzgruppe, mit einem zerbeulten Undercover-Lieferwagen an der Spitze und zwei schwarzen SWATVans dahinter, stand mit laufenden Motoren in der Tiefgarage des Gebäudes. Starling wuchtete die Tasche mit ihrer Ausrüstung aus dem Mustang und hastete zum Führungsfahrzeug hinüber, einem schmutzigweißen, geschlossenen Lieferwagen, der an den Seiten die Aufschrift »Marcell’s Gourmet-Krabben« trug. Durch die geöffneten Hecktüren beobachteten vier Männer Starlings Auftritt. Der Kampfanzug ließ sie schmal wirken. Trotz des Gewichts der Ausrüstung bewegte sie sich rasch und behende. Ihr Haar glänzte in dem gespenstischen Neonlicht. »Frauen und Pünktlichkeit«, knurrte ein Officer. BATF Special Agent John Brigham, für den Einsatz verantwortlich, erstickte jede Diskussion im Keim. »Sie ist nicht zu spät - ich habe sie erst gerufen, als wir von unserem Informanten grünes Licht hatten«, sagte Brigham. »Sie mußte sich erst mal aus Quantico loseisen. - Hey, Starling, hier herüber mit der Tasche.« »Gimme five, John«, begrüßte ihn Starling. Ein kurzer Wortwechsel Brighams mit dem
heruntergekommenen Undercover-Agenten, der am Steuer saß, und der Lieferwagen fuhr los, bevor die Hecktüren geschlossen waren, hinaus in den freundlichen Herbstnachmittag. Clarice Starling, die in ihrem Agentinnenleben mehr als genug Überwachungswagen kennengelernt hatte, tauchte unter dem Okular des Periskops hinweg und suchte sich im hinteren Teil des Wagens einen Platz, möglichst nahe den 150 Pfund Trockeneis, die als Kühlung würden herhalten müssen, wenn sie mit abgestelltem Motor auf der Lauer lagen. Der alte Lieferwagen verströmte diesen Ziegenstallgeruch aus Angst und Schweiß, dem mit keiner Putzaktion mehr beizukommen ist. Er hatte über die Jahre hinweg unzählige Firmenaufdrucke über sich ergehen lassen müssen. Die leicht angeschmutzten, verblassenden Schilder waren keine halbe Stunde alt. Die verspachtelten Einschußlöcher waren älter. Die Rückfenster funktionierten gut getarnt wie Einwegspiegel. Starling konnte die großen schwarzen SWAT-Vans, die ihnen folgten, gut sehen. Sie hoffte, daß sie nicht länger als absolut nötig in den Wagen zubringen mußten. Immer dann, wenn sie ihr Gesicht dem Fenster zuwandte, musterten ihre männlichen Kollegen sie mit verstohlenem Blick. FBI Special Agent Clarice Starling machte, wie bisher noch in jedem Alter, eine gute Figur mit ihren zweiunddreißig Jahren, sogar im Kampfanzug. Brigham griff sich seinen Klemmblock vomBeifahrersitz. »Wie kommt es eigentlich, Starling, daß du immer wieder in so einer Scheiße landest?« fragte er sie lächelnd. »Weil du mich immer wieder anforderst«, antwortete sie. »Für das hier brauche ich dich wirklich. Aber ich sehe doch, daß du mit den Greifern Haftbefehle vollstrecken mußt. Ohne dir zu nahe treten zu wollen, aber irgendwer in Buzzards Point muß dich hassen. Komm zu mir. Arbeite mit mir. Darf ich dir meine Leute vorstellen? Das hier sind Agent Marquez Burke und John Hare, und dort drüben sitzt Officer Bolton vom Washingtoner Police Department.« Mehr oder weniger bunt zusammengewürfelte Einsatzgruppen aus Leuten vom Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms, der DEA und dem FBI waren Ausdruck der angespannten Haushaltslage in einer Zeit, wo sogar die FBI-Akademie wegen Geldmangels ihre Pforten schließen mußte. Burke und Hare sahen wie Agenten aus. Officer Bolton machte eher den Eindruck eines Vollzugsbeamten. Er war ungefähr fünfundvierzig, übergewichtig und wirkte leicht aufgedunsen. Der Bürgermeister von Washington, nach seiner Verurteilung wegen Drogenbesitzes sorgsam darauf bedacht, sich als Mann der harten Hand zu profilieren, legte größten Wert darauf, daß Washingtons Polizei bei jeder größeren Drogenrazzia ihren Anteil am Erfolg abbekam. Darum also Bolton. »Die Drumgo-Clique kocht heute«, sagte Brigham. »Evelda Drumgo, als ob ich es nicht geahnt hätte«, sagte Starling, nicht sonderlich erbaut. Brigham nickte. »Sie betreibt unten am Fluß in der Nähe des Feliciana-Fischmarkts ein Labor. Unserem Informanten zufolge hat sie heute eine Wagenladung >Ice< in Arbeit. Und
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