Lesereise Nordfriesische Inseln
Und als Peter Suhrkamp 1935 Annemarie Seidel heiratete, eine Schwester der Schriftstellerin Ina Seidel, stieß selbstverständlich auch Ernst Penzoldt an der Hochzeitstafel auf das Brautpaar an. Trauzeugen waren der Lyriker Oskar Loerke und die Schauspielerin Elsa Wagner – wie Annemarie Seidel, genannt Mirl, enthusiastische Kampen-Fans! Inseltratsch und Trubel lagen Mirl allerdings nicht, weshalb sie Geselligkeiten, von denen alle Welt auf Sylt schwärmte, fernblieb, egal, ob Tanzabenden mit Lampions am Strand oder den berühmten Teestunden im Haus »Kliffende«, wo sich lauter Prominenz die Klinke in die Hand gab: der Schriftsteller Ernst Toller, der Dirigent Otto Klemperer, die Berliner Bildhauerin Renée Sintenis, Fritz Wichert vom Frankfurter Städel, die Kammersängerin Emmi Leisner, Wolkenmaler Emil Nolde, »Rumsauser« Ringelnatz und noch lange nicht am Schluss Verleger Ernst Rowohlt alias »der Seehund«, nebst Gattin »Steppenwolf«. Mirl sehnte sich nach Ruhe in ihrem Friesenhaus. Von ihrem ersten Ehemann, Anthony van Hoboken, einem renommierten holländischen Haydn-Forscher, hatte sie es 1929 geschenkt bekommen. Nach der Scheidung durfte sie es behalten. Und so gelangte die Immobilie in ihre Ehe mit Peter Suhrkamp. Nicht die schlechteste Mitgift.
Annemarie Seidel – Mirl – Frau Hoboken – Frau Suhrkamp wird im heutigen Kampen wenig Freundliches nachgesagt. Auf den Dorfführungen fällt ihr Name, wenn überhaupt, nur am Rande. Ein Kratzer am Luxuslack? Weil sie ihre blauen Flecken an der Seele mit Alkohol gekühlt hat?
Blättern wir an dieser Stelle ein paar Kapitel zurück: nach München, wo Mirl aufwuchs und mit gerade mal zwanzig Jahren auf der Bühne der Kammerspiele stand. Das Publikum begeisterte ihr Talent, Kritiker riss sie in Strindbergs »Gespenstersonate« und Wedekinds »Frühlings Erwachen« zu Ovationen hin. Doch trotz ihrer Erfolge auch in anderen großen Rollen kündigte Mirl 1919 ihr Engagement. Die Metropole Berlin zog sie an. An der Spree genoss sie einen glänzenden Ruf, drängelten sich junge Poeten, Feuilletonisten und Bohemiens darum, zum »Mirl-Kreis« zu gehören. 1920 sollte sie am Staatstheater die Hauptrolle in einer Uraufführung übernehmen, im »Kreuzweg« (der Titel schien Programm!), dem Debüt des noch unentdeckten Dramatikers Carl Zuckmayer. Hals über Kopf verliebten sich »Zuck« und Mirl. Sie schmiedeten Heiratspläne, erwarteten 1921 ein Kind. Doch Mirl verlor es nach einem Sturz auf der Bühne während der Aufführung von Shakespeares »Sturm«. Schlimme Wochen und Monate folgten. Mirl, schon als Kind gesundheitlich labil, litt an »trockenem Husten«. Diesem war eine Bronchitis vorausgegangen. »Ihre Stimme hatte einen etwas aufgerauhten gesprungenen Klang«, schrieb Carl Zuckmayer später in seinen Erinnerungen, »der frühe Tod sprach mit und war in ihren von einem Fieber glänzenden, groß aufgeschlagenen Augen.« Wie von einem Engel geschickt, stand plötzlich Anthony van Hoboken vor der Tür, ein Bewunderer aus Mirls Münchner Glanzzeiten unter der Ära Gustav Falckenberg. Er erkannte die lebensbedrohliche Lungenentzündung, brachte Mirl in eine Spezialklinik, übernahm die Behandlungskosten.
1922 heirateten Anthony und Mirl. Der charmante Mittdreißiger war eine gute Partie: sympathisch, gebildet und durch eine Erbschaft Millionär. Zuckmayer blieb seiner Liebe treu, glaubte, dass sie sich »nie ganz verlieren« würden. Über drei Jahrzehnte gingen Briefe hin und her, »Liebste Mirl«, »Geliebtes Carlchen«, »Immer Deine Mirl«, »Sei umarmt von Deinem Carlchen«. 1931 zerbrach die Ehe zwischen Anthony und Mirl. Kannte sie damals schon Peter Suhrkamp, den Grandseigneur? Silvester 1932 lud Mirl ein paar Freunde nach Kampen ein, auch »Zuck« war dabei. Zu fortgeschrittener Stunde schlug er ans Glas, sprudelte aus ihm »gestegreift, steggereift, stegreifgereimt«:
Das alte Jahr zu Ende geht,
Das neue vor der Türe steht.
Das mag ein gut Jahr werden!!
Der Nebel in der Heide stockt.
Der Leuchtturm hinterm Nebel hockt
Und hält die Wacht auf Erden.
Es ruht das Meer, es schläft das Watt.
Die Wildgans schläft, von Muscheln satt.
Das Wachs tropft von den Lichtern.
Wir trinken unsren Portwein still.
Mag kommen, was da kommen will!!
Der Himmel helf’ den Dichtern!
Als Ernst Penzoldt 1937 erstmals nach Kampen kam, war Mirl schon zwei Jahre mit Suhrkamp zusammen. Zu dem Schriftsteller aus Erlangen, der auch Maler, Grafiker und Bildhauer war,
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