Lesereise Nordfriesische Inseln
Sklave, mal wieder aus der Seekiste zu holen …
Ästhetik indes überwiegt. Zum Beispiel in dem mit vielen Auszeichnungen geehrten Friesendorf Nieblum, fünf Kilometer von Wyk entfernt. Schauen Sie sich mit Muße um! Verordnen Sie sich Aufmerksamkeit! Und stecken Sie als Begleitung Harro Bohns Klassiker über »Die Häuser des Dorfkernes einst und jetzt, ihre Bewohner früher und heute« auf ihren Wegen ein! Der 1923 selbst auch in Nieblum geborene Autor durchforstete Berge von Akten, die von Nieblumer Häusern erzählen – sortiert nach Adressen wie Smal Jat, Poststrat oder Babendörpstieg. Harro Bohn saß an der Quelle, konnte aus dem Vollen schöpfen, immerhin war er viele Jahre Archivar der Ferring Stiftung. Im Nachbardorf Alkersum, wo das Museum Kunst der Westküste 2009 seine Tore öffnete, hat sie ihren Sitz. Und auch hier wieder wird Kulturgeschichte gepflegt, erhält man Auskunft zu Sitten und Bräuchen, wozu auch Sprachfeinheiten und Sprachgepflogenheiten zwischen Friesisch und Platt gehören. Eine Probe aufs Exempel: Wann haben wir einen Föhringer vor uns, wann einen Föhrer? Ersterer blickt auf eine mindestens achthundertjährige Familientradition zurück und spricht selbstverständlich Friesisch, der Clan des anderen kann mit nur vierhundert Jahren Inselverbundenheit aufwarten und snackt Platt. Alles klar?
Harro Bohns Nieblum-Buch ist ein kurzweiliges Nachschlagewerk zu über hundert Nieblumer Friesenhäusern. Im Telegrammstil fasst er ihre Eckdaten zusammen, ergänzt von biografischen Notizen und historischen Fotos: Von 1777 bis 1781 wohnte etwa im Karkstieg 9 der Seefahrer Jacob Broders, er starb auf der Rückreise von Grönland nach Kopenhagen, »auf Seeland beigesetzt«. Im Namine-Witt-Wai 1 lebte Erk J. Hansen, »1729 entführte er seine Braut J. Thur Ocken von Wyk und heiratete sie trotz Verbot«. Aus dem Friesenhaus im Drunkenmannsstieg 14 ist von Krassen Eschels zu hören, »Sie wurde zu einer Zuchthausstrafe verurteilt, weil sie Pastor Posselt einen ›Seewolf‹ genannt haben soll. Sie starb 1826 in Alkersum«. Viel los war offenkundig stets in der Jens-Jakob-Eschels-Straße. So in der Nr. 4, wo sich von 1799 bis 1814 Christian Rasmus, ein Schornsteinfeger aus Jütland, einmietete. »1786 wurde er wegen Schafdiebstahl zu einer Karrenstrafe verurteilt.« In der Nr. 18 lebte von 1743 bis 1759 Ady Nickelsen, »Er hat seine Nahrung zu See gesucht und gefunden«. Sohn Volkerts Adys war »Ackermann«, Dorfvogt, Ratmann, Deichvogt, stieg zum größten Landbesitzer von Nieblum auf. In der Nr. 22 fertigte Seemann Nahmen Nahmens von 1750 bis 1768 Kompasse, Oktanten und Stundengläser an. 1845 zog Kapitän Knudtsen in das Friesenhaus ein. »32 Jahre« war er auf See, »davon 11 Jahre auf Schiffen ersten Ranges« der Hamburger Reederei Sloman. Zusammen mit der Reederei Laeisz gab sie in der Hansestadt den Ton an. Peter Haase, Organist der St. Johannis-Gemeinde, logierte von 1734 bis 1757 im Friesenhaus in De Gröne Eck 7, in zweiter Ehe war er mit der Tochter von Georg Philipp Telemann, Anna Clara, vermählt. Der aus Hamburg stammende Maler Christian Carl Magnussen schließlich kaufte 1869 das von windschiefen Linden gesäumte prächtige Friesenhaus Bi de Süd 14 (1968 wurde es abgerissen!) und begann in dieser Umgebung, Mädchen und Frauen in Friesentracht zu porträtieren. Spielend mit Licht und Schatten, malte er den Silberfiligranschmuck, die bestickten Hauben, blauschwarzen bodenlangen Kleider, seidenen Brusttücher und mit Spitzen verzierten Schürzen aus anmutig fallendem weißen Stoff. Doch ob die Gesichter immer »echt« waren? Viele Friesinnen lehnten Modellstehen ab. »Denn können se ja in Dütschland seggen: ›Kiek mal, dar is Tienje, kiek mal dar is Antje.‹ Ne, dat dör ick nich!« So empörte sich eine Föhringerin. Heute geben viele Mädels »alles«, um Model zu werden. Nicht nur in Germany. Ein Fortschritt?
Föhr umkränzen sechzehn Friesendörfer. Jedes versprüht einen eigenen Charme. Oldsum, wo sich einst Hippies in Love and Peace übten und inzwischen Künstler, Musiker, Tontöpfer in edel restaurierten Kapitänshäusern ihre Galerien und Werkstätten einrichteten. Utersum, wo sich Amrum und Föhr fast küssen – keine zweitausend Meter trennt die Inseln an dieser Stelle im Wattenmeer, die meisten Wattwanderungen an der Nordseeküste gehen hier hin und her. Midlum, wo Schafwolle lockt. Von wärmenden Socken über Puschen und Pullis wird alles selbst geschoren und versponnen.
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