Lesereise Nordfriesische Inseln
vorbei, Ernst von Salomon zum Beispiel. Aus dieser Urzelle ging die »Kupferkanne« hervor. Rund um das Bunkergelände legte Günter Rieck einen Park mit dreißigtausend Kiefern an. 1999, als Orkantief »Anatol« auf Sylt sein Unwesen trieb, lagen fast alle diese Bäume entwurzelt am Boden. Mitarbeiter des Sylter In-Treffs pflanzten sie damals kopfüber wieder ein. Unter der Devise: »Mit neuem Schwung und neuer Frisur geht das Leben weiter.«
Stürme haben viele Stimmen, heulen, pfeifen, klagen, dröhnen. Manchmal sind sie schaurig, manchmal berückend schön. Einzelne Töne kann man kaum heraushören, Flutwellen überschlagen sich im Chor. 1920 weilte Alfred Kerr auf Sylt. Ein Unwetter zog auf. »Die Türen zittern. Draußen ein Keuchen.« Nur eine Luke wagte er einen Spalt zu öffnen. Seltsames drang an seine Ohren, anschwellend, nachlassend, »wie auf einer ungeheuren Geige gespielt«. Hatte sich irgendetwas an der Türverschalung gelöst? Plötzlich begannen Töne auch in seinem Zimmer zu vibrieren. Der Wirt klopfte an, eilte herein. Unter erlösendem Gelächter entdeckten sie, wie sich die Tonstärke der Unwettermusik durch schnelles Öffnen und Schließen der Zimmertür regulieren ließ. Ein »Gigantenkonzert« entstand, »ein Weltuntergangslied in Takten«. Auf einer Syltreise zuvor wurde der Weimarer Theaterkritiker nachts von »ewiger Donnermusik« geweckt. Sie kam vom Strand, wo die Wellen »braungrün« brandeten.
Barfuß durchs Watt
Hautnah eine der letzten Naturlandschaften Europas erkunden
Was für ein Gefühl! Schon beim ersten, noch vorsichtig tastenden Schritt auf dem entblößten Meeresboden! Schlickig schlammiges Graublau geht in endlose Flächen von gelbem Sandwatt über, dazwischen Sandbänke und Sandzungen, umgeben von Rinnsalen und Prielen. Der letzte Ebbstrom sammelt sich hier und fließt nach und nach gurgelnd ins offene Meer. Steigt das Wasser nach sechs Stunden wieder an, verschwinden die Rinnsale rasch, füllen sich die Priele, bis sich auch sie wieder mit dem Meer vereinen. Unerfahrene sind außerstande, ihre Tiefe abzuschätzen. Vorsicht ist darum geboten, sich allein auf den Weg zwischen Himmel und Erde zu machen! Immer wieder werden Sologänger von rückkehrenden Fluten erfasst. Andere kommen gerade noch mit dem Leben davon oder werden von einem Hubschrauber aus Strudeln und Strömungen geborgen. Gefährlich ist im Watt auch das Sonnenlicht. Der feuchtnasse Boden reflektiert ultraviolette Strahlen sehr intensiv. Noch gefährlicher ist Seenebel. In Sekundenschnelle verbreitet er seine undurchsichtigen Vorhänge und Kissen wie aus dem Nichts. Wo ist die Küste? Links? Rechts? Hinten? Vorn? Wattführer proben mit ihren Gruppen den Ernstfall, indem sie alle Teilnehmer nebeneinander in einer Reihe aufstellen und mit geschlossenen Augen geradeaus an einen bestimmten Punkt zitieren. Fast keiner kommt an. Das fährt nachhaltig in die Glieder.
Seit 2009 trägt das Wattenmeer von den Niederlanden bis nach Nordfriesland die Krone Weltnaturerbe – auf gleichem herausgehobenem Rang wie die Serengeti in Ostafrika, die Galapagosinseln im Pazifik, das Große Barriereriff vor der Küste Australiens oder der Grand Canyon in den USA . Man hofft, dass auch noch die dänischen Watten um Fanø und Rømø zum Weltnaturerbe Wattenmeer hinzukommen.
Weltnaturerbe! Ein großes Wort, ein Geschenk? Man kann ein Erbe annehmen oder ausschlagen. Zunächst aber muss man erbfähig sein. Darunter versteht die Juristerei, überhaupt Erbe werden zu können. Tieren geht diese Fähigkeit ab, nicht, weil es ihnen an Intelligenz mangelt. Das Erbrecht wendet die Vorschriften für Sachen auf sie an, obwohl Tiere rechtlich (und auch sonst) keine Sachen sind. Wortklauberei? Nein, Paragraph 90a BGB . Wir, natürliche Personen namens Mensch, können Erbe werden. Wie schön! Haben dabei aber nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Letzteres finden viele lästig. Auch im Falle Naturerbe Wattenmeer. Oder was ist mit denen, die die Ölförderung immer weiter ausdehnen, für Offshore-Windparks, für Kabeltrassen plädieren? Sollte man ihnen nicht besser die Erbfähigkeit aberkennen? Ebenso den von allen guten Geistern Verlassenen, die Autoreifen, Waschmaschinen, Neonröhren über Bord kippen? Sollte man ihnen nicht jeden Zutritt zum Wattenmeer verwehren?
Wir Menschen sind im Wattenmeer nur zu Besuch, nur Gäste. Das haben aber noch lange nicht alle kapiert. Die weltweit einzigartige Naturlandschaft gehört den Seevögeln, den
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