Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados
normannischen Käses. In der Gasse vor dem Haus war längst niemand mehr unterwegs; innen saß nur eine Handvoll Gäste beim Essen. Über eine steile, gewundene Treppe erreichten sie die kleinen Gastzimmer überm Restaurant. Außer dem Rauschen des Regens vor dem Fenster war dort nichts zu hören. Dass sich am Tag mehrere Tausend Besucher durch die Gasse darunter gedrängt hatten, war schwer vorstellbar.
Der Mont Saint-Michel ist so reich an Superlativen, wie er klein an Fläche ist. Als meistbesuchtes Monument Frankreichs außerhalb von Paris hat er in der Gunst der Touristen nur einen ernsthaften Konkurrenten: den Eiffelturm. Und als einziger Ort der Normandie, der niemals von feindlichen Truppen erobert wurde, besitzt der Glaubensberg auch patriotische Strahlkraft. Versuche, ihn einzunehmen, gab es immer wieder. Eine englische Kanone erinnert bis heute an die unruhigen Zeiten des Hundertjährigen Krieges, als im 14. und im 15. Jahrhundert überall in der Normandie Engländer herumliefen, die das Land für ihres hielten. Doch die hohen Mauern machten die Klosterburg zur uneinnehmbaren Festung, gegen die die Engländer genauso wie 1562 und 1563 die Hugenotten vergeblich anrannten.
Auch der Kontrast zwischen Tag und Nacht könnte größer als hier kaum sein: dem Ansturm der Besucher, die sich tags bei »La Mère Poulard«, der berühmtesten Eierbräterei des Berges, mit Omelettes stärken, die sich auf den Stufen zur Abtei drängen, die sich in den Souvenirbuden an ihrem Fuß mit Kühlschrankmagneten, Sets, Serviettenringen und Küchenhandtüchern eindecken, folgt am Abend geradezu klösterliche Stille, wenn das Dorf Atem schöpft und die von Kerzen erleuchtete Abtei – im Juli und August werden auch zu vorgerückter Stunde Besucher eingelassen – ihren ganzen Zauber entfaltet.
Der Berg führt ein Doppelleben. Eigentlich ist er Pilgerziel, seit Bischof Aubert in Avranches auf dem Festland gleich drei Mal der Erzengel Michael erschien. Beim dritten Mal verlieh er seiner Forderung, Aubert möge auf dem achtzig Meter hohen Felsen mit Namen Mont Tomb – Grabesberg – eine Kapelle errichten, mehr Nachdruck als zuvor: Er tippte dem schlafenden Aubert fest auf den Kopf. So erklärten sich spätere Generationen das Loch in seinem Schädel, der heute in einem Reliquienschrein in der Kirche Saint-Gervais-et-Saint-Protais in Avranches ruht. Es war 708, und Aubert nahm den Wink nun ernst. Dass draußen ein Orkan tobte, der dem Berg die Verbindung zum Land entriss, mag Aubert als kosmische Unterstützung des Auftrags interpretiert haben. Obwohl der Berg fortan vor der Küste im Meer lag, was die Arbeiten erschwerte, ließ er im Jahr darauf die erste Kapelle erbauen.
Zweihundert Jahre später war aus der Kapelle eine Benediktinerabtei geworden, an deren Fuß ein Dorf klebte. Über Jahrhunderte wurde der Sakralbau immer wieder vergrößert; himmelwärts. In die Breite konnte wegen der Enge des Zauberbergs nicht gebaut werden. Im Mittelalter war der festungsartige Bau das wichtigste Pilgerziel des Abendlandes, dem erst Santiago de Compostela in Nordwestspanien mit der Grabkirche des Heiligen Jakob Konkurrenz machte. Aus ganz Europa strömten Pilger herbei. Fassungslos standen sie nach langer Reise vor dem Wunderwerk, das sich aus den Fluten erhob, und ließen eine einträgliche Tourismusindustrie erblühen. So groß war der Ansturm, dass die Reisenden einander in den schmalen Gassen des Glaubensbergs bisweilen buchstäblich erdrückten. Weitere Opfer forderte das Meer. Denn die Flut strömt hier mit dramatischer Geschwindigkeit in die Bucht: Zweiundsechzig Meter schafft das Wasser pro Minute bei einlaufender Flut – es ist der höchste Tidenhub Europas.
Dass das Wasser den Berg indessen schon seit Jahrzehnten nicht mehr ungehindert umspült, ist eine Folge des Tourismus. Eigentlich lag die Insel vier Kilometer vom Festland entfernt. Um der Pilger willen wurden im 17. Jahrhundert die Polder angelegt, die bis auf einen Kilometer an den Berg heranreichten. Später kanalisierte man den Couesnon, den Grenzfluss zwischen Normandie und Bretagne, der hier ins Meer mündet. Fortan strömte der Fluss, der zuvor häufig sein Bett verlagert hatte, geradewegs nach Süden. Allerdings hatte er dabei kaum noch die Kraft, Tonnen von Sedimenten aus der Bucht hinauszuspülen.
In der Folge beider Maßnahmen verlandete die Bucht zunehmend. Als 1879 noch der Straßendamm errichtet wurde, der Berg und Festland miteinander verbindet, und knapp
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