Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados
hundert Jahre später eine Staumauer in den Fluss gesetzt wurde, um die flussaufwärts gelegene Stadt Pontorson vor Hochwasser zu schützen, waren die Kräfte der Natur vollends aus dem Gleichgewicht geraten: Das Wasser der Flut konnte nicht zirkulieren, stattdessen wurden mit jeder Flut Sedimente in die vierzigtausend Hektar große Bucht hinein–, aber nicht wieder hinausgespült.
Wissenschaftler schätzen, dass Sedimente, Schlamm und Gras den Berg bis 2042 endgültig in Festland verwandeln werden. Deshalb haben die beiden betroffenen Regionen Normandie und Bretagne – ganz knapp liegt der Mont Saint-Michel zum Leidwesen der Bretonen vor der Grenze zu ihrer Heimat – und die beiden anliegenden Départements die Notbremse gezogen und ein gewaltiges Renaturierungsprojekt auf den Weg gebracht. Die UNESCO , die den Mont Saint-Michel zum Weltkulturerbe zählt, hatte lange schon gemahnt, dass der Inselstatus ein wesentliches Charakteristikum des Glaubensbergs sei – und er immer schon auch wegen seiner schwierigen Erreichbarkeit ein spiritueller Ort gewesen sei. Bis ins 19. Jahrhundert war der Berg nur bei Ebbe zugänglich. Und auch dann fiel mancher Pilger dem tückischen Treibsand zum Opfer. Die Abtei besuchen, hieß einstmals gar, das Leben aufs Spiel zu setzen. Denn bis ins 19. Jahrhundert war der Berg nur bei Ebbe zugänglich, und selbst dann fiel mancher Pilger tückischem Treibsand zum Opfer.
1995 schon fiel die Entscheidung für das hundertvierundsechzig Millionen teure Renaturierungsprojekt. Mit hundertvierundsechzig Millionen Euro lässt man sich die Rettung dieses Giganten des Tourismus eine Menge Geld kosten. Zur Hälfte zahlt der französische Staat, die andere Hälfte teilen sich die Regionen Basse Normandie und Bretagne, die Départements La Manche und Ille-et-Villaine sowie die Europäische Union und zwei Wasseragenturen. Im Jahr 2009 wurde eine computergesteuerte Brückenschleuse mit acht beweglichen Toren über die Flussmündung gesetzt, die den Rückfluss des Wassers ins Meer zulässt, normale Gezeiten imitiert und so der Versandung entgegenwirkt. Die Resultate seien drei Jahre später bereits erkennbar, sagt Mathilde Charon vom »Syndicat Mixte Baie du Mont Saint-Michel«, der Vereinigung der beteiligten Parteien: »Das Flussbett hat sich verbreitert und die Salzmarschen sind zurückgewichen.«
Das Flussbett wird von Sedimenten und Pflanzen befreit, um dem Lauf des Couesnon mehr Tiefe und Breite zu geben. Neben dem Lärmen der Bagger ist aber die veränderte Parksituation vorerst das auffälligste Zeugnis des Langzeitprojekts. Seit April 2012 sind die viertausendeinhundert Parkplätze in der Bucht Geschichte. Aber nicht nur, weil die Flut gelegentlich doch den einen oder anderen Stellplatz erreichte und dabei bisweilen auch ein Fahrzeug versenkte, weinen selbst die Menschen den Parkplätzen keine Träne nach, die täglich zur Arbeit in Geschäften oder Restaurants auf den Berg müssen. Die Plätze sind aufs Festland verlegt worden, wo nun Shuttle-Busse oder von Pferden gezogene Fahrzeuge jene Besucher zum Berg bringen, die den Weg über den Damm nicht zu Fuß zurücklegen mögen. »Seit die Parkplätze weg sind, herrscht hier ein ganz anderes Leben«, erklärt André, der in achtzehn Jahren als Reiseleiter jeden Stein des Glaubensbergs kennengelernt hat. »Es ist ruhiger geworden, der Berg hat an Atmosphäre gewonnen.«
Schon ein halbes Jahr zuvor, im September 2011, wurden die Pfeiler für die neue, knapp achthundert Meter lange Brücke gesetzt. Über sie erreichen die Besucher ab 2014 den Mont Saint-Michel. Der bestehende Damm wird dafür um die Hälfte verkürzt und misst künftig nur mehr einen Kilometer; von seinem Ende wird sich künftig die Brücke in anmutigem Bogen über hoffentlich tosende Fluten spannen. Doch wird es wohl gute zehn Jahre dauern, bis die Wasserzirkulation sich so weit entwickelt hat, dass die Flussmündung als solche zu erkennen sein und der Berg bei Flut wieder im Wasser liegen wird.
Bewusst wurde die Zahl der Parkplätze nicht erhöht. »Der Berg befindet sich jetzt schon am Rand seines Fassungsvermögens«, erklärt Mathilde Charon. In der Hochsaison im Juli und August muss gelegentlich die Polizei einschreiten, wenn sich der Besucherstrom in den drei Hauptgassen unauflöslich staut. Wie in den Hoch-Zeiten der Pilgerbewegung blüht auch der Handel mit den Souvenirs. Allerdings stammen die heute aus Fernost und nicht mehr aus Paris. Auch die Motive der Besucher –
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