Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados
Von nun an war der Familiensitz in der Normandie nur mehr Feriendomizil der Diors. 1931 verlor Vater Maurice Dior das Vermögen, das er als Hersteller von Düngemitteln erwirtschaftet hatte; das Anwesen wurde schließlich an die Stadt Granville verkauft. Da war Christian lange schon in Paris heimisch. Zunächst hatte er sich mit finanzieller Unterstützung des Vaters in der Hauptstadt als Galerist versucht. Und das durchaus erfolgreich, verkaufte er doch unter anderem Arbeiten seines Freundes Pablo Picasso. Auch ein Bekannter aus der Normandie, sogar aus Granville, gehörte zu dem Kreis Kreativer, mit denen Dior befreundet war. Zweiter berühmter Sohn der Stadt neben Dior ist nämlich der Kunstsammler Richard Anacréon (1907–1992). Er eröffnete in Paris eine literarische Buchhandlung, wurde ein enger Freund Colettes – die ihre Bücher gerne in seinem Geschäft vorstellte – und stiftete seiner Heimatstadt später ein Museum für moderne Kunst.
Anfang der dreißiger Jahre trafen die Familie Dior Schicksalsschläge. Mutter Madeleine und ein Bruder starben. Nach der Pleite des Vaters wechselte Christian Dior in die Modeindustrie. Zunächst zeichnete er Entwürfe für diverse Pariser Modehäuser, 1946 gründete er das nach ihm benannte Unternehmen, das bis heute Synonym für französische Eleganz und verführerische Düfte ist.
Gleich seine erste Kollektion, die »Ligne Corolle«, machte Dior zum Star. Wo in den Kriegsjahren Verzicht geherrscht hatte, präsentierte er nun verschwenderische Fülle: jede Menge teurer Stoffe statt Materialknappheit, üppige Formen statt überschlanker Silhouetten. Bald kleidete er halb Hollywood, darunter Ava Gardner und Grace Kelly, auf der Leinwand und im Leben. Auch die junge Brigitte Bardot zog er an. Aber auch die schönsten Frauen des europäischen Hochadels, darunter Elizabeth II. von England und ihre Schwester Margaret Rose, ließen sich gerne in Dior sehen.
Es war ein weiter Weg gewesen vom Fischerdorf Granville zum Gipfel der Modewelt. Die Spuren seiner Kindheit finden sich als farbliche Akzente dennoch in seiner schwelgerischen Couture wieder: Rosa wie die Rosen im Garten von Les Rhumbs, Grau wie der Himmel der Normandie.
1997 erst eröffnete das »Musée de la Mode« in Diors Elternhaus. Die Wechselausstellungen, für die das Haus alljährlich im Sommer dem Publikum geöffnet wird, geben indessen nur wenig Einblick in sein Leben. Keine Informationen über den Menschen Christian Dior, weder Stoffe zum Anfassen noch Düfte zum Schnuppern – das Konzept wirkt deutlich älter als das Museum selbst. Und auch das Personal tritt seltsam leidenschaftslos auf. Die beiden Damen, die an diesem Nachmittag die Besucher begrüßen, haben Mühe, die dürrsten Fakten aus der Biografie des berühmten Bewohners zu benennen. Vielleicht empfinden sie das Interesse der Besucher auch als indiskret. Die Frage nach der sexuellen Orientierung des vor mehr als einem halben Jahrhundert, nämlich 1957, an einem Herzinfarkt verstorbenen Modeschöpfers beantworten sie geradezu indigniert mit dem Hinweis, sein Privatleben interessiere sie nicht.
Was vom ursprünglichen Interieur erhalten ist, das mögen sie immerhin verraten. Es ist wenig genug: das Treppenhaus und ein Gemälde unter der Treppe, das Reiher vor hellem Himmel zeigt, sind geblieben, wie Dior sie kannte. Auch der Garten wurde neu gestaltet, soll dem Original aber nahe sein. In warmem Aprikosenton leuchtet die Fassade des Hauses hinter den hohen alten Bäumen. Möwen schreien, vom Rosengarten aus sieht man die Küste in der Tiefe. Paris scheint einmal mehr sehr viel weiter entfernt, als das geografisch der Fall ist. Ungeachtet der etwas staubigen Präsentation des Modemuseums hat das Anwesen in dem riesigen Garten einen gewissen Zauber bewahrt.
Während die kühnsten und die schöpferischsten Söhne Granvilles seinerzeit die Heimat verließen, um anderswo ihr Glück zu suchen, verläuft der Strom heute in der Gegenrichtung. In der historischen Oberstadt haben Hauptstadtbewohner ihre Ferienwohnungen. Denn Granville ist nicht nur für Hummer und Meeresschnecken, für das Dior-Museum und einen besonders schönen Blick auf die Kanalinseln berühmt. Mit Möwengeschrei, der aus Granitstein von der Insel Chausey erbauten Altstadt und dem letzten Dreimaster, der 1923 für die Fahrten nach Neufundland gebaut wurde, bildet es auch eine Essenz von Geschichte und Flair der Normandie.
Immer schon brachte das auf einem Granitfelsen über dem
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